Die sanfte Hand des Todes
Am Morgen hatte man sie wegen ihres Morbus Crohn operiert. Sie war sehr benommen aus dem Aufwachraum gekommen, aber inzwischen wieder voll da.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Dawn mit sanfter Stimme.
»Ich habe Schmerzen.« Danielle lag da wie in die Matratze gedrückt, ihr Haar ausgebreitet auf dem Kopfkissen. Sie hing am Tropf. Über verschiedene Schläuche wurden Blut und andere Körperflüssigkeiten in die Behälter unter dem Bett geleitet. Zwischen den Pyjamaknöpfen war eine weiße Bandage zu erkennen, die bis zu ihrem Unterleib reichte.
»Möchten Sie ein Schmerzmittel?«
»O ja, bitte.«
Das leise Klirren eines Schlüsselbundes kündigte Mandy an. »Ist schon erledigt, Dawn. Ich habe ihr gerade Morphium gespritzt.«
»Es hilft nicht«, sagte Danielle und schüttelte matt den Kopf. »Ich spüre immer noch nichts.«
»Haben Sie etwas Geduld«, erklärte Mandy. »Es dauert ein paar Minuten.«
»Nein, es ist zwecklos. Es wirkt nicht. Glauben Sie mir.« Danielle schluchzte und legte sich den Arm übers Gesicht.
Mandy verdrehte die Augen und zeigte Dawn Danielles Krankenblatt. »Zehn Milligramm, sehen Sie das?«, flüsterte sie. »Unmöglich, dass sie noch mehr braucht.«
Dawn schielte auf die Morphiumschlüssel an Mandys Hüfte, die bei jeder Bewegung leise klapperten.
Langsam sagte sie: »Wir sollten ihr glauben. Sie ist bei Bewusstsein, sie leidet, Puls und Blutdruck sind in Ordnung. Sie bekommt eine zweite Dosis. Ich begleite Sie und unterzeichne.«
Mandy seufzte. »Okay. Sie sind der Boss.«
Dawn folgte Mandy zum Lagerraum. Sie ließ die Schlüssel nicht aus den Augen. Ihr Herz klopfte. Waren Danielles Schmerzen tatsächlich so stark, dass eine zweite Dosis gerechtfertigt war? Oder suchte sie lediglich nach einer Ausrede, an den Medikamentenschrank zu gehen? Wozu sollte das gut sein? Ihr waren die Hände gebunden, solange Mandy danebenstand.
Mandy löste die Schlüssel von ihrem Gürtel und öffnete das Vorhängeschloss am Medikamentenschrank. Dawn versuchte, sich den Inhalt einzuprägen. Auf einem Metallregal standen Kartons, in denen die Ampullen steckten. Der oberste war geöffnet. Grummelnd nahm Mandy ihn heraus.
»Eins sage ich Ihnen, Miss Drama Queen wird uns für den Rest der Woche einheizen. Ich weiß, sie wurde gerade erst operiert, aber …«
Sie hielt inne. Sie hatte eine Ampulle herausgenommen, sie aufgebrochen, ohne hinzusehen, und sich dabei einen länglichen Splitter in den Zeigefinger gerammt.
»Hier, schnell.« Dawn riss ein paar Papiertücher aus dem Spender. Mandy presste sich die Tücher auf die Wunde, aber das Blut hatte sie im Nu aufgeweicht.
»Halten Sie es unter kaltes Wasser«, sagte Dawn, »vielleicht kann das die Blutung stoppen.«
Mandy ging zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn voll auf. Sie streckte den Finger in den Strahl. Hellrote Rinnsale liefen über das weiße Porzellan. Dawn verfolgte das Ganze aus ein paar Metern Abstand, drehte unmerklich den Kopf und schielte zu den Morphiumkartons hinüber. Das Waschbecken befand sich direkt hinter der geöffneten Schranktür. Von ihrem Platz am Becken aus konnte Mandy das Regal nicht mehr sehen.
Dawns Herz klopfte wie wild.
»Es blutet noch!«, rief Mandy.
»Warten Sie eine Minute ab«, sagte Dawn. Ihr Blick klebte an den Kisten. Zehn Ampullen , hatte in der Mail gestanden. Genau so viele, wie in einen Karton passten.
Ohne länger nachzudenken, zog Dawn eine Box aus dem Stapel und riss sie auf, was bei laufendem Wasser geräuschlos vonstattenging. Sie kippte sich die Ampullen in die Hand und ließ sie in ihrer Kitteltasche verschwinden. Die Glasbehälter klirrten. Dawn legte eine Hand an ihre Tasche und sah sich hastig nach Mandy um, die immer noch mit ihrem Finger beschäftigt war. Dawn schob die leere Kiste ganz unten in den Stapel zurück.
»Gibt es hier irgendwo ein Pflaster?«, rief Mandy.
»Sofort!«
Wie unschuldig Dawn klang! Sie wischte sich die Hände ab und holte die Pflasterbox aus dem Regal. Sie konnte selbst nicht fassen, was eben passiert war. Das ganze Grübeln, Planen und Denken, und nun war ihr das Morphium einfach so in den Schoß gefallen. Aber es war noch nicht vorbei. Nun kam es darauf an, so schnell wie möglich von hier wegzukommen, bevor Mandy misstrauisch wurde. Sie reichte ihr das Pflaster über die Schranktür hinweg. Während Mandy damit beschäftigt war, das Papier vom Klebestreifen zu befreien, entsorgte Dawn die zerbrochene Ampulle
und holte eine neue aus der Schachtel.
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