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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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zehn ging sie nach oben, um in eine Jeans und einen dunklen Pulli zu schlüpfen.
    »Sorry, Milly«, sagte sie zu dem Hund, der ihr brav an die Haustür gefolgt war. »Heute gibt es für dich leider keinen Spaziergang mehr. Drück mir die Daumen.«
    Sie nahm den Umschlag zur Grünfläche mit. Der Abend war kühl, eine frische Brise wehte. Sie musste den Umschlag zusammendrücken, um ihn durch den Briefschlitz zu zwängen. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf den anderen Postsendungen. Geschafft. Sie hatte getan, was der »Gratulant« von ihr verlangt hatte, und zwar nach bestem Wissen. Von nun an war Schluss. Endgültig.
    Um kurz vor elf erreichte sie das St. Iberius. Das massige Gebäude ragte vor ihr in den Nachthimmel auf. Hinter den beleuchteten Fenstern bewegten sich kleine schwarze Gestalten. Dawn war aufgekratzt und hellwach und zu allem bereit. Durch die gläserne Schiebetür erkannte sie die menschenleere Eingangshalle. Der Laden der Heilsarmee war verrammelt und verschlossen, der Brunnen abgeschaltet. Arnold, der Nachtwächter, saß in seiner Loge am Haupteingang. Dawn stand in einer dunklen Ecke des Parkplatzes und beobachtete, wie er beim Telefonieren eine Hand unter seine dunkelblaue Mütze schob, um sich am Kopf zu kratzen.

    Dawn ging zum Seiteneingang. Durch eine Tür in einer hohen Betonmauer gelangte sie in einen Hof voller Mülltonnen. Es roch süßlich nach fauligem Essen. Am hinteren Ende sah sie die Metalltür, die direkt ins Gebäude führte. Es gab keine Türklinke, nur einen in die Wand eingelassenen Ziffernblock. Dawn tippte den Code ein und trat in einen schmalen, unbeleuchteten Flur. Hinter den grauen Schwingtüren lag die stille Küche, gewischt und geputzt und für den nächsten Tag bereit. Dahinter kam der Lastenaufzug, für den auch ein Code benötigt wurde, den Dawn ebenfalls wusste. Es existierte in diesem Krankenhaus kein Winkel, den sie nicht kannte. Jede Tür, jede Nische, jedes Leck in einem Rohr und jedes Geräusch war ihr so vertraut wie der Körper eines Menschen, den sie seit Ewigkeiten pflegte und umsorgte.
    Sie nahm den Aufzug in den zweiten Stock des Hauptgebäudes. Von dort gelangte man durch einen gläsernen Tunnel in den alten, viktorianischen Trakt. Zu dieser späten Stunde war der Gang menschenleer. Dawn erreichte das Treppenhaus und stieg in den sechsten Stock hinauf. Auch im Flur vor der Station war Dawn allein. Ihre Turnschuhsohlen quietschten leise, das Mondlicht fiel auf den Fußboden. Wie viele Male war sie im Morgengrauen über diesen Flur gelaufen, euphorisiert von zwanzig Stunden ohne Schlaf? Wie oft hatte sie an diesem Fenster gestanden und die dunklen Häuserzeilen betrachtet, deren Bewohner sich ausruhen konnten in der Gewissheit, hier im Notfall gut aufgehoben zu sein? Es war, als wachte das Krankenhaus über den Schlaf der Stadt.
    Vor der Station bewegte sich nichts. Weder Stimmen noch andere Geräusche waren zu hören. Dawn stieß die Türen zentimeterweit auf. Im Zentrum der Station stand der Schwesterntisch mit den Computern und Telefonen, erhellt vom Licht einer einzelnen Lampe. Hinter dem Schreibtisch
lagen die Krankenbetten im Dunkeln. Weder Elspeth noch die Aushilfe waren zu sehen. Wahrscheinlich hielten sie sich im Pausenraum am hinteren Ende der Station auf. Sie würden Dawn nicht hören. Und falls eine der Frauen tatsächlich auftauchen sollte, würde Dawn sie lange vorher bemerken.
    Sie schlüpfte durch die Schwingtür und eilte in den Lagerraum. Das Licht brauchte sie nicht einzuschalten, denn im trüben Schein der Schreibtischlampe konnte sie Arbeitsflächen und Regale gut erkennen. Der Metallschrank an der Wand schimmerte. Dawn zog Einmalhandschuhe aus dem Spender und stülpte sie über. Dann holte sie den Bolzenschneider aus der Tasche. Just in dem Moment, als sie das Werkzeug aus der Zeitung auswickelte, hallte eine Männerstimme durch die Station: »Hey, was, zum Teufel, tust du da?«
    Der Bolzenschneider rutschte Dawn aus der Hand, doch sie konnte ihn in letzter Minute auffangen. Wieder war die Stimme zu hören: »Haut ab, ihr Schweine! Ich bringe euch um!«
    Dawn atmete erleichtert aus. Mr. Otway in Bett sechzehn. Tagsüber war er ein sanftmütiger, höflicher alter Mann, aber sobald das Licht ausging, verlor er die Orientierung. Einer wiederkehrenden Wahnvorstellung zufolge war er das Opfer eines Menschenexperiments, das der MI5 in Auftrag gegeben hatte. Dawn lauschte, aber anscheinend kam niemand, um nach ihm zu sehen. Seine

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