Die sanfte Hand des Todes
sie mit einem Teelöffel zerdrückte. Sie steckte die Krümel in ein Butterbrot und verfütterte es an Milly.
»Armes Mädchen.« Sie strich über Millys Flanke und versuchte, die entzündete Hüfte nicht zu berühren. »Du armes altes Mädchen. Dabei hast du dich in letzter Zeit so tapfer geschlagen.«
Schade, dass Milly heute einen schlechten Tag hatte. Dawn fand es nicht nur für das arme Tier bedauernswert, sondern auch für sich selbst. Ein ausgedehnter Spaziergang wäre ideal gewesen, zum Tooting Bec Common oder vielleicht sogar bis Wandsworth. Allein zu gehen hatte Dawn keine Lust.
Um sich zu beschäftigen, stieg sie die Treppe hinauf, zog Laken und Bettbezüge ab und stopfte sie zusammen mit ein paar Handtüchern in die Waschmaschine. Dann füllte sie Wasser in einen Eimer und wischte die Küche.
»Hallooo? Dawn?«
Lautes Klopfen. Dawn ging in den Flur. Eine dürre Gestalt mit zerrupfter Dauerwelle stand gebeugt vor dem Fenster neben der Haustür und legte eine Hand an die Scheibe. Eileen Warren, Dawns Nachbarin von gegenüber.
»Daaawn?«, rief Eileen und tippte mit den Fingernägeln an das Glas. »Mach auf. Ich weiß, dass du zu Hause bist.«
Dawn durchquerte den Flur und öffnete die Tür.
»Hallo, Eileen. Wie geht’s?«
»Ich bin gerade von Somerfield zurück.« Eileen rüttelte an ihrem Rollator mit Einkaufsnetz. »Ich dachte, ich schaue kurz vorbei und sage hallo. Ein schöner Abend, nicht wahr?«
Der Abend war tatsächlich schön. Das Gras leuchtete goldgelb, und die Hitze dämpfte den Verkehrslärm, der von weither zu kommen schien.
»Hast du später schon was vor?«, fragte Eileen.
»Noch nicht.«
»Nun, dann komm mich auf einen Tee besuchen. Du weißt ja, wo du mich findest.«
»Danke, Eileen. Keine Ahnung, was ich später noch tun werde, aber ich denke dran.«
Dawn verfolgte, wie ihre alte Nachbarin auf den Rollator gestützt über die Straße humpelte. Eileen war nett, wenn auch geschwätzig, und eng mit Dora befreundet gewesen. Seit Doras Tod fühlte Eileen sich oft einsam. Ständig klingelte sie unter irgendeinem Vorwand bei Dawn: Ob sie irgendetwas brauche? Ob sie auf einen Tee herüberkommen wolle? Dawn ging tatsächlich oft zum Essen oder auf einen Tee und ein Schwätzchen zu Eileen. Aber heute war sie nicht in der Stimmung. Sie wollte raus, weg von hier, wollte für eine Weile jemand anders sein. Die Sonne schien auf das Auto vor Dawns Haus. Das Licht spiegelte sich in den Seitenscheiben wie in einer Brille. Auf einmal fragte sich Dawn, was Will
wohl heute Abend machte. Sie hatte eigentlich nicht mehr an ihn gedacht, seit er sie neulich angerufen und zum Essen eingeladen und sie ihn so schroff zurückgewiesen hatte. Sie war sich sicher, wenn sie ihn anrief, würde er zur Verfügung stehen. Sie musste ihm lediglich ein Zeichen geben.
Aber schon meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Du darfst ihn nicht ausnutzen. Du hast vielleicht keine Gefühle für ihn, aber du achtest ihn viel zu sehr, um ihn schlecht zu behandeln . Und trotzdem, wie schön es doch wäre, heute Abend mit jemandem auszugehen, ein Ziel und etwas zu tun zu haben. Sie sehnte sich nach Normalität. Sie wollte keine Oberschwester oder Pflegerin sein, sondern ein ganz normaler Mensch ohne große Verantwortung, der sich unters Volk mischte und keine dringlichere Frage hatte als die, welches Getränk er bestellen solle. Will war freundlich und ausgeglichen, und genau so etwas brauchte sie jetzt. Sie würden einfach nur zusammen ausgehen, als Freunde, und könnten sich über das Landleben, Computer, Hunde, die Ferien unterhalten. Sie würde ihm zu verstehen geben, dass sie darüber hinaus kein Interesse an ihm hatte. Will war erwachsen, oder? Er konnte selbst entscheiden.
Sie griff zum Telefon.
»Will? Hier spricht Dawn.«
»Dawn!« Seine Freude war kaum zu überhören. Dawn machte unbeirrt weiter.
»Ich habe mich gefragt … Gilt die Einladung zum Abendessen noch?«
»Zum Abendessen?« Will klang überrascht. »Ich dachte, diese Woche wäre ungünstig für dich?«
»Na ja, am Ende war sie ruhiger, als ich dachte.« Sie versuchte, nicht schnippisch zu klingen. Was war mit ihm los? Wollte er sie nun treffen oder nicht?
Will sagte: »Nein, nein – Abendessen wäre toll.« Er lächelte,
das konnte sie hören. Sie stellte ihn sich als Sesamstraßenfigur vor, die von einem Ohr zum anderen grinste. »Wann denn?«
»Wie wär’s mit heute Abend?«
»Heute?« Wieder klang er überrascht. »Liebend gern, aber
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