Die sanfte Hand des Todes
leider muss ich heute Abend arbeiten. Mein Kunde hält sich in der Stadt auf. Ich werde mindestens bis neun bei ihm sein.«
»Oh.« Dawn fuhr mit dem Finger über einen Kratzer im Telefontischchen. »Wie schade. Heute Abend hätte es mir gut gepasst. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wann ich das nächste Mal freibekomme.«
Sie konnte sich kaum selbst ertragen. Diese armselige Drohung war unter seiner und ihrer Würde. Aber Will trug es ihr nicht nach. »Nein, so meinte ich das nicht … Natürlich können wir uns treffen, es wäre nur später am Abend. Ich kann den Zug nehmen, sobald ich fertig bin.«
»Oder ich komme in die Stadt«, sagte Dawn. »So sparen wir Zeit.«
»Ja, dann. Gern! Wenn du das wirklich willst. Es macht dir wirklich nichts aus?«
»Nein.« Dawn war unglaublich erleichtert. »Kein bisschen.«
Sie zog sich nur selten schick an. Aber heute trieb sie der kleine Kobold, der in ihr herumzappelte, dazu, in die hinterste Ecke des Kleiderschranks zu kriechen und das schwarze Glitzertop mit passendem Rock hervorzukramen, das sie letztes Jahr im Whitgift Centre für die Weihnachtsfeier gekauft hatte. Der Rock war ein bisschen zu eng; sie hatte sich damals wegen Dora sehr beeilen müssen und keine Gelegenheit gehabt, die Sachen in Ruhe anzuprobieren. Aber als sie ihn nun über die Hüften zog, musste sie feststellen, dass
sie abgenommen hatte. Der knielange Rock passte wie angegossen. Dawn kämmte sich das Haar. Mandy hatte recht gehabt, es war tatsächlich gewachsen und passte nun nicht zu der eleganten Kleidung. Sie versuchte es hochzustecken und drehte vor dem Spiegel den Kopf hin und her, um den Effekt zu überprüfen. Sie fasste das Haar zu einem tief im Nacken sitzenden Knoten, wie Francine ihn trug, zusammen und benötigte ein paar Anläufe, bis es klappte.
Sie betrachtete sich. Anders als die zierliche Francine war sie groß und grobknochig, aber heute Abend fand sie sich rank und hochgewachsen; in den schwarzen, hochhackigen Sandaletten wirkten ihre Beine lang und schlank. Nach den vergangenen Tagen hatte sie nicht mehr damit gerechnet, auch nur annähernd normal auszusehen, geschweige denn attraktiv; aber so war es nun. Man wusste nie im Voraus, wie sich die Dinge entwickelten.
Milly lag zusammengerollt in ihrem Korb in der Küche. Nach der Tablette schien es ihr besser zu gehen. Als Dawn sich von ihr verabschiedete, klopfte ihr Schwanz gegen die Waschmaschine.
»Bis später.« Dawn tätschelte Millys Kopf. Sie stellte ihr frisches Wasser hin und legte ein paar Hundekuchen dazu.
Im Bus nach Croydon saßen nur Jugendliche, die in die Stadt wollten. Es roch nach Hamburgern und Aftershave. Der Bahnhof von East Croydon war rappelvoll, aber da es sich um die Endstation handelte, konnte Dawn mühelos einen Sitzplatz ergattern. An jeder Haltestelle stiegen Leute zu, so dass schließlich selbst in den Gängen dichtes Gedränge herrschte. Die meisten Passagiere waren jung und trugen Jeans und Turnschuhe. Dawn betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe; sie sah schick aus mit dem Rock und den High Heels. Sofort drohte ihre gute Laune zu verfliegen. Machte sich heutzutage denn keiner mehr die Mühe, sich
gut anzuziehen? Was tat sie da eigentlich? Sie nahm eine lange Fahrt in Kauf, um sich mit einem netten, aber langweiligen Mann zu treffen und einen Abend mit ihm zu verbringen, der von Schweigen und Missverständnissen geprägt sein würde. Das Klügste wäre, bei der nächsten Haltestelle auszusteigen und zurückzufahren. Aber schon im nächsten Augenblick ratterte der Zug über die Themse, und als zu ihrer Linken die illuminierte Albert Bridge auftauchte, deren Lichterketten leuchteten wie Perlen auf einer rosa Torte, wurde Dawn von einer vertrauten Aufregung gepackt, die sich selbst nach vielen Jahren in der Stadt nicht ganz abgenutzt hatte. London. Ich bin in London .
Das Büro von Wills Kunden befand sich irgendwo in Ludgate Hill. Er hatte gesagt, er werde an der Millenniumbrücke auf sie warten, auf der Seite der Tate Modern. Dawn fuhr mit der U-Bahn bis Embankment und lief über die Blackfriars Bridge. Die Bäume am Südufer waren mit unzähligen kleinen blauen Lichtern geschmückt, die sich auf der schwarzen, unruhigen Wasseroberfläche spiegelten. Sie erreichte die Tate Modern ein paar Minuten zu früh, aber Will wartete bereits auf sie. Er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, was ungewohnt war, und stand zwischen den Beinen einer riesigen Metallspinne. Das blaue Licht der
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