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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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bekanntgegeben wurden: positiv, inoperabel, zu weit fortgeschritten, die Klauen des Krebs tief in ihre ganze Brust geschlagen. Ein paar Monate noch, sechs, wenn sie Glück hatte, und vorher, bald, die Schmerzen. Mishal kehrte nach Peristan zurück und begab sich direkt in ihre Räume, wo sie ihrem Mann einen formellen Brief auf lavendelfarbenem Papier schrieb und ihm die ärztliche Diagnose mitteilte. Als er ihr eigenhändig geschriebenes Todesurteil las, wäre er am liebsten in Tränen ausgebrochen, aber seine Augen blieben trocken. Viele Jahre lang hatte er keine Zeit für das Höchste Wesen gehabt, aber nun tauchten plötzlich ein paar von Aischas Sätzen in seinem Kopf auf. Gott wird dich retten. Alles wird gegeben werden. Dann kam ihm ein bitterer, abergläubischer Gedanke. »Es ist ein Fluch«, dachte er. »Weil ich Aischa begehrt habe, ermordet sie meine Frau.«
    Als er vor den Frauengemächern ankam, weigerte sich Mishal, ihn zu sehen, ab er ihre Mutter, die ihm die Tür versperrte, reichte ihm eine zweite Nachricht auf parfümiertem blauen Briefpapier. »Ich möchte Aischa sehen«, stand darauf.
    »Bitte gestatte mir dies.« Mirza Said senkte den Kopf, gab seine Zustimmung und schlich beschämt von dannen.
     
    Mit Mahound gibt es immer einen Kampf; mit dem Imam Knechtschaft; aber mit diesem Mädchen, da ist rein gar nichts.
    Gibril ist träge, gewöhnlich schläft er im Traum wie im Leben.
    Sie findet ihn unter einem Baum oder in einem Graben, hört, was er nicht sagt, nimmt sich, was sie braucht, und verschwindet. Was weiß er zum Beispiel über Krebs?
    Überhaupt nichts.
    Überall um ihn herum, denkt er, während er halb träumt, halb wacht, sind Menschen, die Stimmen hören, die von Worten verrührt werden. Aber nicht von seinen; das ist nie sein Originaltext.
    Aber wessen dann? Wer flüstert in ihre Ohren, lässt sie Berge bewegen, Uhren anhalten, Krankheiten diagnostizieren? Er wird nicht schlau daraus.
     
    Am Tag nach Mishal Akhtars Rückkehr nach Titlipur verschwand das Mädchen Aischa, das die Leute anfingen, eine Kahin zu nennen, eine Pir, für eine ganze Woche. Osman der Clown, ihr glückloser Verehrer, der ihr in einiger Entfernung auf dem staubigen Kartoffelweg nach Chatnapatna gefolgt war, erzählte den Dorfbewohnern, dass eine Brise aufgekommen sei und ihm Staub in die Augen geblasen habe; als er den Staub aus den Augen gerieben hatte, war sie »einfach weg.« Wenn Osman und sein Ochse ihre unglaublichen Geschichten über Dschinns und Wunderlampen und Sesam-öffne-dichs erzählten, blickten die Dorfbewohner meist nachsichtig drein oder zogen ihn auf, okay, Osman, heb dir das für die Idioten in Chatnapatna auf; die fallen vielleicht auf so’n Zeug rein, aber hier in Titlipur wissen wir, wo oben und wo unten ist und dass Paläste nicht einfach erschei nen, es sei denn, tausendundein Arbeiter erbauten sie, und dass sie auch nicht so leicht verschwinden, es sei denn, ebenso viele Arbeiter rissen sie nieder. Diesmal jedoch lachte niemand über den Clown, denn wenn es um Aischa ging, waren die Dorfbewohner bereit, alles zu glauben. Sie waren zu der Überzeugung gelangt, dass das schneehaarige Mädchen die wahre Nachfolgerin der alten Bibiji sein musste , denn waren die Schmetterlinge nicht im Jahr ihrer Geburt zurückgekehrt und bedeckten sie sie nicht wie ein Gewand? Aischa war die Rechtfertigung der lange schon schal gewordenen Hoffnung, die sie mit der Rückkehr der Schmetterlinge verbunden hatten, und der Beweis, dass in diesem Leben noch große Dinge geschehen konnten, selbst für die Schwächsten und Ärmsten im Land.
    »Der Engel hat sie weggebracht«, staunte Khadija, die Frau des Sarpanch, und Osman brach in Tränen aus. »Aber nein, das ist doch etwas Wunderbares«, erklärte die alte Khadija verständnislos. Die Dörfler machten sich über den Sarpanch lustig: »Wie du mit einer so taktlosen Frau Dorfoberhaupt geworden bist, ist uns ein Rätsel.«
    »Ihr habt mich gewählt«, entgegnete er mürrisch.
    Am siebten Tag nach ihrem Verschwinden wurde Aischa gesichtet, wie sie aufs Dorf zukam, wieder nackt und in goldene Schmetterlinge gekleidet; ihr silbernes Haar wehte hinter ihr im Wind. Sie begab sich geradewegs zum Hause des Sarpanch Muhammad Din und bat ihn, sofort den Panchayat von Titlipur zu einer dringlichen Sondersitzung einzuberufen. »Das größte Ereignis in der Geschichte des Baums ist über uns gekommen«, vertraute sie ihm an. Und Muhammed Din, der sie nicht abweisen konnte,

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