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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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setzte die Zeit für das Treffen auf den selben Tag nach Einbruch der Dunkelheit an.
    An diesem Abend nahmen die Mitglieder des Panchayat ihre Plätze auf dem üblichen Ast des Baums ein, während Aischa, die Kahin, vor ihnen auf dem Boden stand. »Ich bin mit dem Engel in höchste Höhen geflogen«, sagte sie. »Ja, selbst zum Lotusbaum am äußersten Rand. Der Erzengel Gibril: er hat uns eine Botschaft gebracht, die auch ein Befehl ist. Alles wird von uns verlangt, und alles wird gegeben.«
    Nichts im Leben hatte den Sarpanch Muhammad Din auf die Entscheidung vorbereitet, vor die er sich gleich gestellt sehen sollte. »Was verlangt denn der Engel, Tochter Aischa?« fragte er, darum bemüht, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen.
    »Es ist der Wille des Engels, dass wir alle, Männer, Frauen und Kinder im Dorf, uns sofort auf eine Pilgerreise vorbereiten.
    Uns ist befohlen, von diesem Ort aus nach Mekka Sharif zu gehen, um den Schwarzen Stein in der Kaaba im Zentrum der Haram Sharif, der heiligen Moschee, zu küssen. Dorthin müssen wir gehen.«
    Daraufhin begann der Fünferrat hitzig zu debattieren. Es galt, die Ernte zu bedenken und die Unmöglichkeit, das Heimatdorf in Scharen zu verlassen. »Das kann ich mir nicht vorstellen, mein Kind«, erklärte ihr der Sarpanch. »Es ist wohlbekannt, dass Allah all diejenigen von Hadsch und Umra befreit, die nicht imstande sind zu gehen, weil sie zu arm oder zu krank sind.«
    Doch Aischa schwieg, und die Dorfältesten stritten weiter. Dann war es jedoch, als würde ihr Schweigen alle anderen anstecken, und für einen langen Augenblick, in dem die Frage entschieden wurde - obwohl keiner je zu verstehen vermochte, auf welche Weise dies geschah -, wurde kein einziges Wort gesprochen.
    Schließlich war es Osman der Clown, der das Wort ergriff, Osman der Konvertit, dem sein neuer Glaube nicht mehr als ein paar Schlucke Wasser bedeutet hatte. »Von hier bis zum Meer sind es fast zweihundert Meilen«, rief er. »Und wir haben alte Frauen und Säuglinge. Wie könnten wir da gehen?«
    »Gott wird uns die Kraft geben«, erwiderte Aischa gelassen.
    »Ist dir noch nicht der Gedanke gekommen«, rief Osman, der nicht aufgeben wollte, » dass zwischen uns und Mekka Sharif ein gewaltiger Ozean liegt? Wie sollten wir je hinüber gelangen?
    Wir haben kein Geld für Pilgerboote. Vielleicht wird der Engel uns Flügel wachsen lassen, damit wir fliegen können?«
    Darauf fielen viele der Dorfbewohner über den Gotteslästerer Osman her. »Sei jetzt still«, wies ihn der Sarpanch Muhammad Din zurecht . »Du bist noc h nicht lange bei uns, weder im Glauben noch im Dorf. Also halt deinen Mund und lern, dich zu benehmen.«
    Osman jedoch erwiderte frech: »So also heißt ihr Neuankömmlinge willkommen. Nicht als Gleiche, sondern als Leute, die tun müssen, was man ihnen sagt.« Da begann das Knäuel aus rotgesichtigen Männern, sich um Osman zusammenzuziehen, doch bevor irgendetwas passieren konnte, überraschte die Kahin Aischa die Menge aufs Neue, indem sie die Fragen des Clowns beantwortete.
    »Auch das hat der Engel erklärt«, sagte sie leise. »Wir werden zweihundert Meilen gehen, und wenn wir das Meeresufer erreichen, werden wir unsere Füße in den Schaum setzen, und die Wasser werden sich für uns öffnen. Die Wellen werden geteilt werden, und wir werden über den Meeresgrund nach Mekka gehen.«
     
    Am nächsten Morgen erwachte Mirza Said Akhtar in einem Haus, in dem es ungewöhnlich still war, und als er nach den Dienern rief, erhielt er keine Antwort. Die Stille hatte sich auch über die Kartoffelfelder gebreitet; aber unter dem riesigen, ausladenden Dach des Baumes von Tithpur herrschte geschäftiges Treiben. Der Panchayat hatte sich einstimmig dafür ausgesprochen, dem Befehl des Erzengels Gibril Folge zu leisten, und die Dorfbewohner bereiteten sich auf die Abreise vor. Zunächst wollte der Sarpanch den Zimmermann Isa einige Sänften bauen lassen, die von Ochsen gezogen werden und auf denen die Alten und Gebrechlichen reisen sollten, aber seine eigene Frau hatte diese Idee über den Haufen geworfen, indem sie sagte: »Du hörst nicht zu, Sarpanch Sahibji! Hat der Engel nicht gesagt, dass wir zu Fuß gehen müssen? Nun, dann müssen wir das auch tun.« Nur die kleinsten Kinder waren vom Fußmarsch ausgenommen und würden (so war beschlossen worden) von allen Erwachsenen reihum auf dem Rücken getragen werden. Die Dorfbewohner hatten ihre Lebensmittel zusammengetragen, und Kartoffeln,

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