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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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geben; in diesen polizeilich bewachten K rankenhäusern war alles möglich - »und drittens«, fuhr Jumpy fort, »seelischer Zusammenbruch, Persönlichkeitsverlust, Handlungsunfähigkeit. Alles schon mal dagewesen.«
    Niemand widersprach, nicht einmal Hind; es gab Wahrheiten, die konnte man unmöglich leugnen. »Ideologisch«, sagte Jumpy, »lehne ich den Begriff Opfer ab. Er ist zwar zum Opfer gemacht worden, doch wir wissen, dass Machtmissbrauch teilweise auch die Schuld des Opfers ist; unsere Passivität begünstigt solche Verbrechen, ermöglicht sie.« Nachdem er dergestalt die Versammlung in schamrote Unterwerfung gescholten hatte, for derte er Sufyan auf, die kleine Dachkammer, die gegenwärtig nicht belegt war, zur Verfügung zu stellen; Sufyan wiederum sah sich, aus Solidarität und einem Gefühl der Schuld heraus, nicht imstande, auch nur einen Penny Miete zu verlangen. Hind - traurig, aber wahr - murrte:
    »Jetzt weiß ich, dass die Welt verrückt ist, da ein Teufel in meinem Haus absteigt«, aber sie murrte sehr leise, und nur ihre älteste Tochter Mishal hörte, was sie sagte.
    Auf einen Wink seiner jüngeren Tochter hin ging Sufyan zu Chamcha, der in seine Decke gehüllt enorme Mengen von Hinds unübertrefflicher Hühnersuppe aß, hockte sich daneben und legte einen Arm um den noch immer zitternden Unglücklichen. »Hier bist du gut aufgehoben«, sagte er, als spräche er zu einem Einfaltspinsel oder einem Kleinkind. »Wo sonst könntest du deine Entstellungen auskurieren und wieder gesund werden. Wo, wenn nicht hier, bei uns, unter deinen Leuten, unter deinesgleichen?«
    Erst als Saladin Chamcha allein in seiner Mansarde war, am Ende seiner Kräfte, antwortete er auf Sufyans rhetorische Frage: »Ich bin nicht euresgleichen«, sagte er deutlich in die Nacht hinein. »Ihr seid nicht meine Leute. Mein halbes Leben lang habe ich versucht, von euch wegzukommen.«
     
    Sein Herz begann, sich danebenzubenehmen, zu treten und zu stolpern, als wollte es ebenfalls eine neue, diabolische Gestalt annehmen, seinen alten regelmäßigen Schlag gegen die Unvorhersehbarkeit einer komplexen Tablaimprovisation eintauschen. Während er schlaflos in seinem schmalen Bett lag, sich herumwälzte und dabei die Hörner in Laken und Kissenbezüge verwickelte, nahm er die erneute Überspanntheit seines Herzens mit einer Art fatalistischer Ergebenheit hin: wenn schon alles andere, warum dann nicht auch dies.
    Badummbumm, machte sein Herz, und sein Leib zuckte zusammen. Pass bloß auf, oder du bist wirklich erledigt.
    Dummbummbadumm. Ja: das war die Hölle, ganz recht.
    London, verwandelt zu Jahannum, Gehenna, Muspellheim.
    Werden Teufel in der Hölle gepeinigt? Sind nicht sie diejenigen mit den Mistgabeln?
    Durch das Mansardenfenster tropfte jetzt unablässig Wasser.
    Draußen, in der tückischen Stadt, war Tauwetter aufgekommen, das den Straßen die unzuverlässige Konsistenz von durchweichter Pappe verlieh. Schwerfällige weiße Massen glitten von schrägen, schiefergrauen Dächern. Radspuren von Lieferwagen durchfurchten den Matsch. Das erste Licht. Und der Chor der Morgendämmerung setzte ein: das Dr öhnen von Press lufthämmern, das Heulen von Alarmglocken, das Trompeten bereifter Wesen, die an den Kreuzungen aneinandergerieten, das tiefe Brummen eines großen olivgrünen Müllfressers, kreischende Radiostimmen auf einem hölzernen Malergerüst, das sich an das obere Geschoß einer Gaststätte schmiegte, das Brüllen der mächtigen, eben aufgewachten Schwerlastzüge, die furchterregend auf diesem langen, aber schmalen Weg dahineilten. Erschütterungen unter der Erdoberfläche zeigten die Bewegungen riesiger unterirdischer Würmer an, die Menschen gierig verschlangen und wieder ausspuckten, und von oben der Trommelwirbel der Hubschrauber und noch weiter oben das durchdringende Schreien glitzernder Vögel.
    Die Sonne ging auf und wickelte die Stadt aus dem Dunst wie ein Geschenk. Saladin Chamcha schlief.
    Ohne dass ihm Linderung gewährt wurde: denn er kehrte zurück in jene andere Nachtstraße, die er, begleitet von der Krankengymnastin Hyacinth Phillips, entlanggelaufen war, seinem Schicksal entgegen, klipp-klapp, auf unsicheren Hufen, und er erinnerte sich, je ferner die Gefangenschaft rückte und die Stadt sich näherte, dass Gesicht und Körper Hyacinths sich zu verwandeln schienen. Er sah eine Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen sich öffnen und größer werden und ihr Haar, das sich medusenartig verflocht, und

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