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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ihrem Herzen einen unmöglichen Plan versteckte, die fatale Vision des Maurice Wilson, die bis auf den heutigen Tag nicht verwirklicht worden ist, nämlich: den Alleinaufstieg.
    Was sie verschwieg: dass sie Maurice Wilson seit ihrer Rückkehr nach London gesehen hatte, wie er zwischen den Schornsteinen saß, ein winkender Kobold in Knickerbockern und Schottenmütze. Und Gibril Farishta erzählte ihr nichts von dem Geist Rekha Merchants, der ihn verfolgte. Zwischen ihnen gab es, bei aller physischen Intimität, noch verschlossene Türen: jeder behielt einen gefährlichen Geist für sich. Und als Gibril von Allies anderen Visionen hörte, verbarg er hinter seinen neutralen Worten - we nn du es sagst, dann weiß ich - eine große Erregung, hervorgerufen von diesem neuerlichem Beweis, dass die Welt der Träume in die Welt der Wirklichkeit eindrang, dass die Siegel, die sie trennten, brachen und die beiden Firmamente in jedem Moment eins werden konnten, das heißt, dass das Ende aller Dinge nahe war. Als Allie eines Morgens aus erschöpftem und traumlosem Schlaf erwachte, sah sie Gibril in ihrer seit langem nicht mehr aufgeschlagenen Ausgabe von Blakes Hochzeit von Himmel und Hölle vertieft, die sie in jungen Jahren, ohne Respekt vor Büchern, mit vielen Anmerkungen versehen hatte: Unterstreichungen, Kreuzchen am Rand, Ausrufezeichen, Fragezeichen. Als er sah, dass sie aufgewacht war, las er mit boshaftem Grinsen einige dieser Stellen vor. »Von den Sprichworten der Hölle«, begann er. »Die Lust des Ziegenbocks ist der Lohn Gottes.« Sie wurde knallrot.
    »Und jetzt kommt’s«, fuhr er fort. »Die alte Überlieferung, die Welt werde nach sechstausend Jahren im Feuer vergehe n ist richtig, wie ich aus der Hölle vernommen habe. Dann, weiter unten: Dies wird als Steigerung der Sinnenfreude angesehen werden. Sag mal, wer ist das? Ich habe sie hier zwischen den Seiten gefunden.« Er reichte ihr das Foto einer Toten: ihre Schwester Elena, hier begraben und vergessen. Noch eine nach Visionen Süchtige und ein Opfer dieser Gewohnheit. »Wir sprechen nicht oft von ihr.« Sie kniete nackt auf dem Bett, das helle Haar bedeckte ihr Gesicht. »Leg sie dorthin zurück, wo du sie gefunden hast.«
    Weder sah noch hörte ich Gott in einem endlichen, organischen Ding, doch meine Sinne spürten das Unendliche in allem. Er blätterte weiter und legte Elena Cohen neben das Bild des Wiedergeborenen, der nackt und im Schneidersitz auf einem Berg hockte, und die Sonne schien aus seinem Gesäß.
    Ich habe immer gefunden, dass Engel die Eitelkeit besitzen, sich für die einzig Weisen zu halten. Allie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Gibril wollte sie aufmuntern. »Du hast auf das Deckblatt geschrieben: ›Ersc haffung der Welt gem. Erzbisch. Usher 4004 v. Chr., Apokalypse vorauss. 1996‹. Dann bleibt uns ja noch Zeit für die Steigerung der Sinnenfreude.« Sie schüttelte den Kopf: Hör auf. Er hörte auf. »Erzähl’s mir«, sagte er und legte das Buch weg.
     
    Mit zwanzig hatte Elena London im Sturm erobert. Ihr wilder, hochgewachsener Körper schimmerte durch ein goldenes Kettenhemd von Rabanne. Sie war immer mit nachtwandlerischer Selbstsicherheit aufgetreten, als ob ihr die Welt gehörte. Die Stadt war ihr Element, sie schwamm darin wie ein Fisch. Mit einundzwanzig war sie tot, ertrunken in einer Badewanne mit kaltem Wasser, ihr Körper vollgestopft mit psychotropischen Drogen. Kann man in seinem eigenen Element umkommen, hatte Allie sich vor langer Zeit gefragt.
    Wenn Fische im Wasser ertrinken können, können Menschen dann an der Luft ersticken? Damals hatte Allie, achtzehn-neunzehn, Elena um ihre Sicherheiten beneidet. Was war ihr Element? In welchem Period ensystem des Geistes wäre es zu finden? Jetzt, plattfüßig, himalajaerfahren, trauerte sie seinem Verlust nach. Wenn man auf dem Dach der Welt gestanden hat, ist es nicht leicht, in seine kleine Kiste zurückzukehren, auf eine kleine Insel, eine immerwährende Frustration. Aber ihre Füße waren Verräter, und der Berg würde töten.
    Die mythologische Elena, das in Plastikcouture gekleidete Covergirl, hatte sich für unsterblich gehalten. Allie, die sie einmal in ihrer World’s End Bude besuchte, lehnte ein angebotenes Stück Würfelzucker ab, murmelte etwas von Gehirnschäden, fühlte sich der Situation nicht gewachsen, wie immer in Elenas Gegenwart. Ihre Schwester, deren Gesicht mit seinen zu weit auseinanderstehenden Augen und dem zu spitzen Kinn eine

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