Die Satanischen Verse
bemerkbar. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, ohne ein Wort der Ankündigung vor ihrer Tür stehen zu wollen, in der Annahme, sie werde ihn mit offenen Armen erwarten, ihm ein sorgenfreies Leben bieten und eine Wohnung, die zweifellos für sie beide groß genug war? Das war die Art Verhalten, das man von einem verwöhnten Filmschauspieler erwartet, der glaubt, dass ihm die Objekte seiner Begierden einfach wie reife Früchte in den Schoß fallen… kurz, sie hatte sich überfallen gefühlt, zumindest potentiell. Doch dann hatte sie sich scharf zurechtgewiesen, derartige Gedanken in das dunkle Loch zurückverbannt, in das sie gehörten, denn Gibril hatte für seine Vermessenheit teuer bezahlt, wenn es denn Vermessenheit war. Ein toter Liebhaber verdient, dass im Zweifelsfall zu seinen Gunsten entschieden wird.
Dann lag er zu ihren Füßen, bewusstlos im Schnee, und so abwegig erschien ihr dieser Anblick, dass es ihr den Atem verschlug, und sie fragte sich kurz, ob es sich nicht um eine jener visuellen Anomalien handelte - der neutrale Ausdruck war ihr lieber als das gewichtigere Visionen -, die ihr zu schaffen machten, seit sie beschlossen hatte, den Chomolungma ohne Sauerstoffgeräte, allein mit Lungenkraft zu besteigen. Die Anstrengung, ihn aufzuheben, sich den einen Arm um die Schulter zu legen und ihn in ihre Wohnung zu schleppen - mehr tragen als schleppen, ehrlich gesagt - überzeugte sie restlos, dass er keine Chimäre war, sondern schweres Fleisch und Blut.
Ihre Füße peinigten sie den ganzen Heimweg über, und der Schmerz ließ in ihr all den Groll wieder aufsteigen, den sie unterdrückt hatte, als sie ihn für tot gehalten hatte. Was sollte sie jetzt mit ihm anfangen, mit diesem Tollpatsch , der da ausgestreckt auf ihrem Bett lag? Gott, sie hatte vergessen, wie sehr dieser Mann sich breitmachen konnte, wie er nachts das ganze Bett okkupierte und einem alle Bettdecken wegzog. Aber auch andere Gefühle meldete n sich erneut, und sie gewannen die Oberhand; denn hier schlief er, von ihr behütet, die aufgegebene Hoffnung: endlich Liebe.
Eine Woche lang schlief er praktisch rund um die Uhr, wachte nur auf, um die elementaren Bedürfnisse des Hungers und der Hygiene zu stillen, sprach kaum ein Wort. Er schlief unruhig, warf sich im Bett hin und her, und gelegentlich entschlüpften ihm einzelne Wörter: Jahilia, Al-Lat, Hind. In wachem Zustand schien er sich gegen den Schlaf wehren zu wollen, doch dann packte er ihn, wogte über ihn hinweg, und während er kraftlos, herzzerreißend fast, mit dem Arm ruderte, zog es ihn hinab. Sie konnte sich nicht vorstellen, welche traumatischen Erlebnisse Anlass zu einem solchen Verhalten gegeben haben mochten, und ein wenig beunruhigt rief sie ihre Mutter an. Alicja kam, inspizierte den schlafenden Gibril, schürzte die Lippen und verkündete: »Ein Besessener.« Sie hatte sich mehr und mehr in eine Art Singersche Dybbuk-Welt zurückgezogen, und ihr Mystizismus machte ihre pragmatische, bergsteigende Tochter immer wieder wütend. »Versuch’s mal mit einer Saugpumpe am Ohr«, empfahl Alicja. »Das ist der Ausgang , den diese Kreaturen bevorzugen.« Allie brachte ihre Mutter zur Tür.
»Vielen Dank«, sagte sie, »ich melde mich wieder.«
Am siebenten Tag wurde er hellwach, riss die Augen weit auf wie eine Puppe und griff sofort nach ihr. Sie lachte über die Plumpheit seiner Annäherung fast ebenso sehr wie vor Überraschung, aber da war wieder dieses Gefühl von Natürlichkeit, von Richtigkeit; sie grinste, »Na schön, du hast es so gewollt«, und sie schlüpfte aus der unförmigen, elastischen kastanienbraunen Hose und der weitgeschnittenen Jacke - sie mochte keine Sachen, die ihre Formen betonten -, und das war der Anfang des sexuellen Marathons, an dessen Ende sie wund, glücklich und erschöpft zurücksanken.
Er erzählte ihr: er fiel vom Himmel und lebte. Sie holte tief Luft und glaubte ihm, weil ihr Vater an die unzähligen und widersprüchlichen Möglichkeiten des Lebens geglaubt hatte und auch wegen der Dinge, die der Berg sie gelehrt hatte.
»Okay«, sagte sie und atmete aus, »ich nehm’s dir ab. Aber sag meiner Mutter nichts da von, ja?« Das Universum war ein Ort der Wunder, und nur die Gewöhnung, die Narkose des Alltags, stumpft unseren Blick ab. Erst vor wenigen Tagen hatte sie gelesen, dass , während die Sterne verglühten, aus Kohlenstoff Diamanten entstanden. Die Vorstellung, dass Sterne Diamanten ins All schleuderten: auch das klang wie
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