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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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überwältigende Ausstrahlung hatte, sah sie spöttisch an. »Hast genug graue Zellen«, sagte sie, »kannst ruhig ein paar abgeben.« Überschüssige Gehirnzellen waren Elenas Kapital. Sie verschleuderte sie wie Geld auf der Suche nach ihren eigenen Gipfeln; sie wollte, wie es damals hieß, fliegen lernen. Der Tod kam, genauso wie das Leben, im Zuckerguss mantel zu ihr.
    Sie hatte die jüngere Alleluja »verbessern« wollen. »Mensch, du siehst phantastisch aus, warum versteckst du dich in diesen Latzhosen? Mein Gott, du hast doch eine Traumfigur.« Eines Abends steckte sie Allie in ein olivgrünes Teil, das aus Spitze und nichts dazwischen bestand und kaum ihren Körper verhüllte, der in einem Bodystocking steckte. Sie macht ein Bonbon aus mir, schoss es Allie durch den puritanischen Kopf, meine eigene Schwester will eine Schaufensterpuppe aus mir machen, besten Dank. Sie gingen in einen Club mit ekstatischen Lordlingen, und sobald Elenas Aufmerksamkeit abgelenkt war, verzog sich Allie. Eine Woche später, beschämt über ihre Feigheit, den Versuch ihrer Schwester, ihr Vertrauen zu gewinnen, zurückgewiesen zu haben, saß sie im World’s End auf einem Sitzkissen und gestand Elena, dass sie keine Jungfrau mehr war. Woraufhin die ältere Schwester ihr eine Ohrfeige gab und altmodische Ausdrücke an den Kopf warf: Schlampe, Luder, Dirne. »Elena Cone dürfen die Kerle nicht mal mit einem Finger anfassen «, schrie sie und bewies damit, dass sie von sich in der dritten Person reden konnte, »nicht mit einem gottverdammten Fingernagel! Ich weiß genau, was ich wert bin, Schätzchen, ich weiß, dass das Geheimnisumwitterte in dem Moment futsch ist, wenn sie ihr Dings reinstecken, ich hätte mir denken können, dass aus dir mal ‘ne Hure wird. Irgend so ein Scheißkommunist vermutlich!« sagte sie abschließend.
    In diesen Dingen hatte sie die Vorurteile ihres Vaters geerbt, im Gegensatz zu Allie, wie Elena sehr wohl wusste .
    Danach hatten sie sich nicht mehr oft gesehen. Elena blieb bis zu ihrem Tod die schönste Jungfrau der Stadt - die Leichenschau bestätigte eine virgo intacta -, während Allie aufhörte, Unterwäsche zu tragen, verschieden e Jobs bei kleinen, zornigen Ze itschriften annahm, und weil ihre Schwester unberührbar gewesen war, wurde sie das genaue Gegenteil, jeder Geschlechtsakt ein Schlag in das finstere, weiss lippige Gesicht ihrer Schwester. Drei Abtreibungen in zwei Jahren und die späte Erkenntnis, dass sie dank der Pille in der gefährdetsten Krebs-Risikogruppe gelandet war.
    Sie erfuhr vom Tod ihrer Schwester durch Zeitungsreklame an einem Kiosk, FOTOMODELL: TOD IM »SÄUREBAD«. Nicht einmal im Tod ist man vor Wortspielen sicher, war ihr erster Gedanke. Dann stellte sie fest, dass sie nicht weinen konnte.
    »Monatelang habe ich sie noch in Zeitschriften gesehen«, erzählte sie Gibril. »Wegen der langen Vorlaufzeit der Hochglanzmagazine.« Elenas Leiche tanzte in durchsichtige Schleier gehüllt durch die marokkanische Wüste oder wurde auf dem Mond präsentiert, im Meer der Schatten, nackt bis auf einen Astronautenhelm und einem halben Dutzend Seidenkrawatten, um Brüste und Lenden geschlungen. Allie machte es sich zur Gewohnheit, Barte auf die Fotos zu malen, zum Ärger der Zeitungsverkäufer; sie riss ihre tote Schwester aus den Illustrierten ihres zombiehaften Nicht-Todes und zerknüllte sie. Verfolgt von Elenas periodisch erscheinendem Geist, dachte Allie über die Gefahren des Fliegens nach; welche farbenprächtige Stürze, welche makabren Höllen waren für solche Ikarus-Menschen reserviert! Elena wurde für sie zu einer gemarterte n Seele, sie glaubte, dass diese Gefangenschaft in einer starren Welt von Aktfotokalendern, auf denen sie mit schwarzen Plastikbrüsten abgebildet war, die dreimal so groß waren wie ihre eigenen, von pseudoerotischen Verrenkungen, von quer über den Nabel gedruckten Werbesprüchen, im Grunde Elenas persönliche Hölle war. Allie begann, den Aufschrei in den Augen ihrer Schwester zu sehen, die Qual, auf ewig zwischen diesen Doppelseiten eingeschlossen zu sein. Elena wurde von Teufeln gefoltert, von Flammen verzehrt, und sie konnte nicht einmal davonlaufen…
    nach einer Weile musste Allie nicht einen Bogen um die Läden machen, in denen sie damit zu rechnen war, dass ihre Schwester von den Regalen herabstarrte. Sie konnte keine Zeitschrift mehr aufschlagen und versteckte sämtliche Fotos von Elena, die sie besaß. »Mach’s gut, Yel!« rief sie der

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