Die Satanischen Verse
plus eine Unmenge abstruser Beschimpfu ngen): »Jetzt, da du dich aus dem Geschäft zurückgezogen hast, könnte ich ja zum Film gehen. Wer weiß. Vielleicht werd’ ich’s wirklich tun.« Worauf er erwiderte, und sie erschrak über die Schärfe seiner Worte: »Nur über meine Leiche.«
Trotz ihrer pragmatischen Bereitschaft, in das schmutzige Wasser der Realität zu springen und in der Strömung mitzuschwimmen, verlor sie nie das Gefühl, dass ihr an der nächsten Wegbiegung ein furchtbares Unglück auflauerte - das Vermächtnis des plötzlichen Todes von Vater und Schwester.
Dieses Prickeln zu Berge stehender Haare ließ sie zu einer umsichtigen Bergsteigerin werden, zu einem »hundertprozentigen Mann«, wie es ihre Kollegen nannten, und als verehrte Freunde auf diversen Bergen ihr Leben ließen, wurde sie noch vorsichtiger. Das gab ihr im städtischen Alltagsleben zuweilen etwas Angespanntes, Nervöses; mit der Zeit vermittelte sie den Eindruck einer mit schweren Geschützen bewehrten Festung, die sich auf den unausweichlichen Angriff vorberei tete. Dies verstärkte ihr Image eines Eisberges von Frau. Die Menschen hielten Distanz, und sie akzeptierte die Einsamkeit als Preis für die Abgeschiedenheit. Aber es gab noch andere Widersprüche.
Immerhin hatte sie erst kürzlich mit ihrem Entschluss , den letzten Everestaufstieg ohne Sauerstoffgerät zu unternehmen, alle Vorsicht über Bord geworfen. »Abgesehen von all den anderen Aspekten«, versicherte ihr die Werbeagentur in einem formalen Glückwunschschreiben, »verleiht Ihnen das menschliche Züge, es zeigt, dass Sie diese Zum-Teufel-damit-Unbekümmertheit besitzen, und das ist eine neue, positive Dimension.« Daran wurde bereits gearbeitet. Und inzwischen, dachte Allie und lächelte Gibril müde-aufmunternd zu, während er sich an ihr herunterschob, bist du da. Nahezu ein Fremder, bist du bei mir eingezogen. Mein Gott, ich habe dich sogar über die Schwelle getragen, auch wenn das nicht viel ändert. Kann dir keinen Vorwurf machen, dass du das Angebot angenommen hast.
Stubenrein war er nicht. An Diener gewöhnt, ließ er Kleidungsstücke, Essensreste, nasse Teebeutel fallen, ließ sie wirklich zu Boden fallen, wo er gerade stand und sie aufgehoben werden mussten . Ohne sich im Mindesten bewusst zu sein, was er tat, bewies er sich stets von neuem, dass er, der arme kleine Straßenjunge, es nicht mehr nötig hatte, hinter sich aufzuräumen. Das war nicht das einzige an ihm, was sie wahnsinnig machte. Wenn sie Wein einschenkte, trank er sein Glas schnell aus und griff dann, wenn sie gerade nicht hinsah, nach ihrem und beschwichtigte sie mit einem engelsgleichen, superunschuldigen Gesicht: »Ist doch noch genug da!« Sein schlechtes Benehmen im Haus. Er furzte gern. Er beschwerte sich - beschwerte sich doch tatsächlich, nachdem sie ihn buchstäblich aus dem Schnee gekratzt hatte! -über die beengten Wohnverhältnisse. »Wenn ich zwei Schritte mache, stoße ich schon mit dem Kopf an die Wand.« Er war unverschämt am Telefon, wirklich unverschämt, ohne sich zu erkundigen, wer der Anrufer war: automatisch, so wie Filmstars in Bombay eben waren, wenn gerade kein Lakai anwesend war, der sie vor solchen Störungen schüt zte. Nachdem Alicja einen Schwall unflätiger Beschimpfungen über sich hatte ergehen lassen müssen, sagte sie als ihre Tochter schließlich den Hörer nahm: »Entschuldige, dass ich es anspreche, Liebes, aber ich finde, dein Freund ist ein Fall.«
»Ein Fall, Mutter?« Dies rief Alicjas hochmütigste Stimmlage auf den Plan. Sie konnte noch immer die Grande Dame sein, besaß ein Talent dafür, ungeachtet ihres Entschlusses nach Ottos Tod, sich als Pennerin zu verkleiden. »Ein Fall«, verkündete sie eingedenk Gibrils indischer Herkunft, »von subkontinentaler Unzurechnungsfähigkeit.«
Allie stritt sich nicht mit ihrer Mutter, da sie keineswegs sicher war, ob sie mit Gibril weiterhin würde zusammenleben können, auch wenn er quer durch die Welt gereist, auch wenn er vom Himmel gefallen war. Die längerfristigen Chancen waren schwer vorherzusagen, selbst mittelfristig sah es bewölkt aus.
Im Augenblick konzentrierte sie sich auf den Versuch, diesen Mann kennenzulernen, der von Anfang an einfach davon ausgegangen war, dass er die große Liebe ihres Lebens war, so unberührt von irgendwelchen Zweifeln, dass er entweder recht hatte oder verrückt war. Es gab eine Menge schwieriger Situationen. Sie wusste nicht, was er wusste , was sie als
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