Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
ein Wunder. Wenn das passieren konnte, dann auch dies. Babys fielen aus höchsten Stockwerken und blieben unversehrt. In Francois Truffauts Film Taschengeld gab es so eine Szene…
    Sie ordnete ihre Gedanken. »Manchmal«, sagte sie schließlic h, »passieren solche wunderbaren Sachen auch mir.«
    Sie erzählte ihm dann, was sie noch keinem Menschen erzählt hatte: von ihren Visionen am Everest, den Engeln und der Eis-Stadt. »Übrigens nicht nur am Everest«, sagte sie, und fuhr nach einigem Zögern fort. Nach London zurückgekehrt, machte sie einen langen Spaziergang am Themseufer, um ihn und den Berg loszuwerden. Es war frühmorgens, ein gespenstischer Nebel hing in der Luft, und eine dicke Schneedecke verwischte alle Konturen. Und dann tauchten die Eisberge auf.
    Sie kamen zu zehnt in einem majestätischen Zug hintereinander die Themse herauf. Der Nebel um sie herum war dichter, so dass sie ihre Umrisse erst ausmachen konnte, als sie genau vor ihr waren, die akkurat verkleinerten Formen der zehn höchsten Berge der Welt, in aufsteigender Rangfolge, mit ihrem Berg, dem Berg, als Schlusslicht . Sie überlegte noch, wie die Berge unter den Fluss brücken hatten durchkommen können, als sich der Nebel verdichtete und sich dann, ein paar Augenblicke später, völlig auflöste und die Eisberge mit ihm. »Aber sie waren da«, sagte sie mit Nachdruck zu Gibril. »Nanga Parbat, Dhaulagiri, Xixabangma Feng.« Er machte keine Einwände.
    »Wenn du es sagst, dann weiß ich, dass es wirklich so gewesen ist.«
    Ein Eisberg ist Wasser, das zu Erde werden will; ein Berg, besonders im Himalaja, besonders der Everest, ist der Versuch der Erde, sich in Himmel zu verwandeln, ist ein Flugzeug ohne Starterlaubnis, ist Erde, fast zu Luft geworden und, im wahrsten Sinne des Wortes, erhaben. Ehe A llie Bekanntschaft mit dem Berg schloss , hatte sie ihn schon lange dumpf in sich gefühlt.
    Ihre Wohnung war vollgestellt mit lauter Himalajas, Everest-Modelle aus Kork, Plastik, Ton, Stein, Acryl, Ziegelstein drängten sich auf engstem Raum; es gab sogar ein ganz aus Eis geformtes Modell, ein winziger Berg, den sie im Kühlschrank aufbewahrte und von Zeit zu Zeit herausholte, wenn sie vor ihren Freunden angeben wollte. Warum so viele?
    Weil - eine andere Antwort gab es nicht - sie da waren. »Schau mal«, sagte sie und streckte, ohne aufzustehen, die Hand zum Nachttisch aus, auf dem ihre neueste Erwerbung stand, ein schlichter Everest aus verwittertem Pinienholz. »Ein Geschenk von den Sherpas aus Namche Bazar.« Gibril nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn von allen Seiten. Pemba hatte ihn ihr beim Abschied schüchtern überreicht, hatte darauf hingewiesen, dass er ein Geschenk aller Sherpas sei, obgleich sonnenklar war, dass er ihn selbst geschnitzt hatte. Es war ein Modell mit allen Details, einschließlich Eisfall und Hillary-Step, dem letzten großen Hindernis vor dem Gipfel, und die Route, die sie Zum Gipfel genommen hatten, war tief in das Holz eingekerbt.
    Als Gibril ihn umdrehte, entdeckte er auf der Unterseite des Sockels eine Mitteilung: Für Ali Bibi. Wir hatten Glück. Keine weiteren Versuche.
    Allie erzählte Gibril nicht, dass die Warnung des Sherpas sie erschreckt, ihr klargemacht hatte, dass sie, falls sie je wieder ihren Fuß auf den Göttinnenberg setzen sollte, gewiss umkommen würde, da es Sterblichen nicht erlaubt ist, mehr als einmal das Gesicht der Götter zu schauen. Der Berg aber war sowohl diabolisch als auch transzendent, vielmehr: diabolisch und transzendent in einem, so dass sie, während sie über Pembas Warnung nachdachte, einen schmerzhaften Wunsch verspürte, der sie laut aufstöhnen ließ, als wäre es Lust oder Verzweiflung. »Der Himalaja«, sagte sie zu Gibril, um nicht zu sagen, woran sie wirklich dachte, »das sind emotionale und physische Höhepunkte: wie eine Oper. Das macht ihn so ehrfurchtgebietend. Nichts als schwindelerregende Höhen. Ist nicht leicht, so eine Nummer d urchzuhalten.« Allie hatte eine Art, vom Konkreten zum Abstrakten zu springen, so beiläufig bildliche Ausdrücke einzuflechten, dass der Zuhörer sich fragte, ob sie den Unterschied zwischen den beiden kannte, oder (sehr oft) unsicher war, ob am Ende ein solcher Unterschied überhaupt existierte.
    Allie behielt für sich, dass sie den Berg versöhnlich stimmen musste oder sterben würde, dass sie trotz ihrer Plattfüße, die jede ernsthafte Bergsteigerei indiskutabel machten, noch immer Everest-infiziert war, und dass sie tief in

Weitere Kostenlose Bücher