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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Ottos Bestimmung ein englischer Blumengarten hätte sein sollen (gepflegte Blumenbeete rings um den symbolischen Baum in der Mitte, eine »Pfropf-Schimäre« aus Ginster und Goldregen) und gab anstelle von Dinnergesellschaften, bei denen geistvoll geplaudert wurde, Mittagessen - schwere Eintopfgerichte und mindestens drei unerhörte Puddings -, bei denen ungarische Dissidenten-Poeten Gurdjiff-Mystikern langatmige Witze erzählten, oder, wenn keine rechte Stimmung aufkam, die Gäste auf Kissen auf dem Fußboden saßen, trübsinnig auf ihre überladenen Teller starrten und so etwas wie totales Schweigen herrschte, das eine halbe Ewigkeit anzudauern schien. Allie kehrte schließlich diesen Sonntagnachmittag-Ritualen den Rücken, hockte schmollend in ihrem Zimmer, bis sie alt genug war, um (mit Alicjas bereitwilliger Zustimmung) auszuziehen, und schlug einen anderen Weg ein, als den, den ihr Vater für sie bestimmt hatte, über dessen Verrat am eigenen Überleben sie sich so empört hatte. Sie wollte handeln; und stellte fest, dass sie Berge zu besteigen hatte.
    Alicja Cohen, die Allies Kursänderung völlig verständlich, ja lobenswert gefunden und sie tatkräftig unterstützt hatte, konnte (wie sie beim Kaffee einräumte) ihre Tochter in der Angelegenheit Gibril Farishta, des wieder auferstandenen indischen Filmstars, nicht ganz begreifen. »Wenn ich dir so zuhöre, meine Liebe, dann würde ich sagen, der Mann ist nicht in deinem Club«, meinte sie, wobei sie einen Ausdruck verwendete, der ihrer Ansicht nach gleichbedeutend mit nicht dein Typ war, und sie wäre schockiert gewesen, hätte sie erfahren, dass er eine rassistische oder religiöse Verunglimpfung darstellte: und genau so hatte ihn ihre Tochter natürlich verstanden. »Das kann mir nur recht sein«, konterte Allie schlagfertig und stand auf. »Ich kann meinen Club nämlich selbst nicht leiden.«
    Ihre Füße schmerzten, zwangen sie, aus dem Restaurant zu humpeln, statt zu stürmen. »Die große Leidenschaft«, hörte sie hinter sich ihre Mutter durch den Raum rufen. »Die Gabe des Zungenredens; das bedeutet, ein Mädchen kann jeden Blödsinn daherquatschen.«
    Gewisse Aspekte ihrer Erziehung waren unerklärlicherweise vernachlässigt worden. Eines Sonntags, nicht lange nach dem Tod ihres Vaters, als sie am Kiosk an der Ecke die Sonntagszeitungen kaufte, sagte der Verkäufer: »Das ist die letzte Woche. Dreiundzwanzig Jahre habe ich an dieser Ecke Zeitungen verkauft, aber jetzt haben mich die Päkis aus dem Geschäft verdrängt.« Sie hörte das Wort P-ä-k-i und hatte ein bizarres Bild von Elef anten vor Augen, die die Moscow Road entlangtrotteten und die Verkäufer von Sonntagszeitungen niedertrampelten. »Was ist ein Päki?« fragte sie naiv, und die Antwort schmerzte: »Ein brauner Jude.« Sie ging wieder und stellte sich die Besitzer der örtlichen Süßigkeiten/Tabakwaren/Zeitungsläden als lederhäutige Päkis vor: als Menschen, die sich aufgrund ihrer Hautbeschaffenheit von anderen unterscheiden und deswegen anstößig waren. Auch diese Geschichte erzählte sie Gibril. »Oh«, antwortete er vernichtend, »ein Elefantenwitz.« Er war kein einfacher Mensch.
    Aber da lag er in ihrem Bett, dieser große, ordinäre Kerl, für den sie sich öffnen konnte, wie sie sich noch nie zuvor geöffnet hatte; er drang bis in ihren Brustkasten und liebkoste ihr Herz.
    Auf Sexualität hatte sie sich seit Jahren nicht mehr so schnell eingelassen, und nie zuvor war eine so rasch eingegangene Liaison völlig frei von Gefühlen der Reue oder der Selbstverachtung geblieben. Sein anhaltendes Schweigen (sie nahm es als solches, bis sie erfuhr, dass sein Name auf der Passagierliste der Bostan stand) hatte sie geschmerzt, denn es schien darauf hinzudeuten, dass er bei ihrer Begegnung etwas anderes empfunden hatte als sie, aber sich in seiner Lust, in diesem selbstvergessenen, wirbelnden Ding getäuscht zu haben - war das überhaupt möglich? Die Nachricht von seinem Tod löste demzufolge eine zweifache Reaktion aus: einerseits spürte sie eine Art dankbare Freude und Erleichterung darüber, dass er quer durch die ganze Welt gerast war, um sie zu überraschen, dass er sein bisheriges Leben aufgegeben hatte, um mit ihr ein neues anzu fangen; andererseits war da der dumpfe Schmerz darüber, ihn genau in dem Augenblick verloren zu haben, da sie mit Sicherheit wusste , dass sie wirklich geliebt worden war. Später machte sich noch eine andere, weniger großzügige Reaktion in ihr

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