Die Satanischen Verse
auf ihren dreiwöchigen Kubareisen begegnet waren.
Die haben sie natürlich nie angerührt. Der anstrengende Kampf und die Sorge um ideologische Sauberkeit sind ihnen in die Knochen gefahren. Sie kehr ten nach Hause zurück, summten ›Guantanamera‹ und riefen mich an.« Sie stieg aus. »Ich dachte, sollen die besten Köpfe meiner Generation ihre Monologe über die Macht doch auf dem Körper einer anderen Frau halten, nicht mit mir.« Sie begann mit der Bergsteigerei, behauptete sie damals, als sie damit anfing, »weil ich wusste , dass sie mir dorthin nicht folgen würden. Aber dann dachte ich, Scheiße. Ich hab’s nicht für sie getan. Ich hab’s für mich getan.«
Wegen ihrer Plattfüße lief sie jeden Abend eine Stunde lang die Treppe hinauf und hinunter, barfuß und auf Zehenspitzen, um sich dann wütend in einen Haufen Kissen fallen zu lassen.
Gibril sah hilflos zu, und gewöhnlich endete es damit, dass er ihr etwas Starkes zu trinken brachte, meist irischen Whisk y. Sie trank, seitdem ihr das Problem mit ihren Füßen richtig bewusst geworden war. (»Sag um Gotteswillen nichts davon«, empfahl ihr eine Stimme aus der Werbeagentur surrealistisch am Telefon, »wenn es rauskommt, dann ist Sense, finito, Sayonara, Schluss , aus.«) In ihrer einundzwanzigsten gemeinsamen Nacht sagte sie, mit fünf doppelten Jamesons intus: »Warum ich wirklich dort hinaufgestiegen bin? Lach nicht: um von Gut und Böse wegzukommen.« Er lachte nicht.
»Stehen Berge, deiner Meinung nach, jenseits jeglicher Moral?« fragte er ernst. »Das habe ich während der Revolution gelernt«, fuhr sie fort. »Folgendes: irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Information abgeschafft. Weiß nicht genau, wann; ist klar, das gehört ja zu der Information, die abgeschafft wurde, ab-ge-schafft. Seitdem leben wir in einem Märchen. Kapiert? Alles geschieht durch Zauberhand. Wir Märchenfiguren haben keinen Schimmer, was vorgeht. Woher sollen wir also wissen, ob es gut oder schlecht ist. Wir wissen ja nicht mal, was es ist. Ich hab’ mir also gedacht, entweder rackert man sich ab, um es herauszukriegen, oder man hockt sich auf einen Berg, weil alle Wahrheit dorthin gegangen ist, ob du’s glaubst oder nicht, sie ist einfach weggelaufen aus diesen Städten, in denen sogar das Zeug unter unseren Füßen künstlich ist, eine Lüge, und hat sich dort oben in der dünnen, dünnen Luft versteckt, wohin die Lügner sich nicht trauen, aus Angst, ihr Gehirn explodiert. Sie hockt wirklich da oben. Ich bin dort gewesen. Ich weiß es.« Sie schlief ein, er trug sie ins Bett.
Nachdem sie erfahren hatte, dass er bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen war, hatte sie sich damit gequält, ihn zu erfinden, das heißt, sich in Spekulationen über ihren verlorenen Liebhaber ergangen. Er war der erste Mann gewesen, mit dem sie seit über fünf Jahren geschlafen hatte, keine unbedeutende Zahl in ihrem Leben. Sie hatte sich von ihrer Sexualität abgewandt, denn ihre Instinkte warnten sie, dass sie andernfalls von ihr aufgefressen würde, dass sie ein großes Thema für sie war, immer sein würde, ein großer, dunkler, unerforschter Kontinent, und dass sie nicht darauf vorbereitet war, sein Er forscher zu sein, seine Gestade abzustecken: nicht mehr oder, vielleicht, noch nicht. Aber nie hatte sie das Gefühl abgeschüttelt, dass diese Unkenntnis in Sachen Liebe ihr schadete, dass es ihr schadete, nicht zu wissen, wie es war, völlig besessen zu sein von diesem archetypischen DSCHINN, dieses Empfinden für nicht zu kennen, das Verschwimmen der eigenen Grenzen, dieses Freilegen, bis man, vom Adamsapfel bis zum Schritt, offen war: bloße Worte, weil sie von der Sache selbst nichts wusste .
Angenommen, er wäre zu mir gekommen, träumte sie. Ich hätte ihn kennenlernen können, ganz allmählich, hätte ihn bis zum Gipfel besteigen können. Da mir meine schwachen Füße die Berge verweigern, hätte ich den Berg in ihm gesucht: das Basislager aufgeschlagen, Routen geprüft, gefrorene Wasserfälle, Gletscherspalten, Überhänge bezwungen. Ich hätte den Gipfel in Angriff genommen und die Engel tanzen sehen. Aber er ist tot und liegt auf dem Grund des Meeres.
Dann stieß sie auf ihn. Und vielleicht hatte auch er sie ein bisschen erfunden, eine Frau erfunden, die zu lieben es sich lohnte, aus seinem alten Leben herauszustürmen. Nichts sonderlich Bemerkenswertes dabei. Passiert oft genug; und die beiden Erfinder gehen daran, die rohen Kanten des anderen
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