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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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während Rekha auf ihrem Teppich vor ihm herflog wie eine Artistin auf der Bühne, knapp über Kopfhöhe, und ihm die süßesten Liebeslieder sang (sich dabei auf einem alten elfenbeinverzierten Harmonium begleitete), von den Ghaselen des Faiz Ahnlad Faiz bis hin zu den schönsten alten Filmmelodien, etwa das herausfordernde Lied aus Mughal-e— Azam, jenem Klassiker der fünfziger Jahre, mit dem die Tänzerin Arkali vor dem Großmogul Akbar ihre unmögliche, verbotene Liebe zu dem Prinzen Salim besang - »Pyaar kiya to darna kya?« - Das heißt ungefähr, warum sollten wir Angst vor der Liebe haben? und Gibril, den sie im Garten seiner Zweifel angesprochen hatte, fühlte, wie die Musik sein Herz band und ihn zu ihr führte, weil das, was sie sich wünschte, wie sie schon gesagt hatte, eigentlich nur ganz wenig war.
    Er kam zur Themse, unterhalb Cleopatra’s Needle, eine Bank, gusseiserne Kamele trugen die Holzbretter. Er setzte sich, schloss die Augen. Rekha sang Faiz:
    Frag mich nicht, meine Liebe,
    nach der Liebe, die ich einst…
    Wie lieblich bist du noch immer, meine Liebe, Doch hilflos bin auch ich;
    Denn die Welt kennt andere Sorgen als die Liebe Und andere Freuden auch;
    Frag mich nicht, meine Liebe,
    nach der Liebe, die ich einst für dich empfand.
    Gibril sah, hinter geschlossenen Augen, einen Mann vor sich: nicht Faiz, sondern einen anderen Dichter, der weit über den Gipfel seines Ruhms hinaus war, eine klapprige Gestalt.
    Richtig, so hieß er: Baal. Was wollte der denn hier? Was hatte er zu sagen? Denn offensichtlich versuchte er, etwas zu sagen; seine Rede, dumpf und undeutlich, war nur mit Mühe zu verstehen… Jeder neuen Idee, Mahound, werden zwei Fragen gestellt. Die erste wird gest ellt, wenn sie schwach ist: WAS FÜR EINE ART IDEE BIST DU? Gehörst du zu der Art, die Kompromisse eingeht, die Abkommen trifft, sich an die Gesellschaft anpasst , bestrebt ist, eine Nische zu finden, zu überleben; oder bist du der sture, verflucht rücksichtslose, stocksteife Typ von Idee, der lieber zerbricht als sich nach dem Wind dreht? - Von jener Art, die höchstwahrscheinlich, in neunundneunzig von hundert Fällen, zerschmettert wird, aber im hundertsten Fall die Welt verändert?
    »Wie lautet die zweite Frage?« fragte Gibril laut.
    Beantworte zuerst die erste.
     
    Als Gibril im Morgengrauen die Augen öffnete, stellte er fest, dass Rekha nicht mehr singen konnte, vor lauter Erwartung und Unsicherheit zum Schweigen verurteilt. Sofort ging er zum Angriff über. »Das ist ein Trick. Es gibt keinen Gott außer Gott.
    Du bist weder das höchste Wesen noch sein Widersacher, sondern irgendein keifender Nebel. Keine Kompromisse. Mit Nebeln treffe ich keine Abkommen.« Da sah er, dass die Smaragde und der Brokat von ihrem Körper abfielen, dann das Fleisch, bis nur noch das Skelett übrig war, und auch das löste sich auf. Schließlich erklang ein erbärmlicher, durchdringender Schrei, und was von Rekha geblieben war, flog ohne Zorn zur Sonne. Und kehrte nicht wieder bis zum Ende oder kurz davor.
    Überzeugt, eine Prüfung bestanden zu haben, wurde Gibril bewusst , dass eine große Last von ihm genommen war; seine Laune verbesserte sich mit jeder Sekunde, so dass er, als die Sonne am Himmel stand, buchstäblich freudetrunken war. Jetzt konnte es richtig losgehen: die Tyrannei seiner Feinde, Rekhas und Alleluja Cones und all der Frauen, die ihm die Ketten ihrer Begierden und Lieder hatten anlegen wollen, war ein für allemal gebrochen; jetzt spürte er, dass von dem unsichtbaren Punkt hinter seinem Kopf wieder Licht ausströmte, und auch sein Gewicht begann sich zu verringern. Jawohl, er verlor die letzten Spuren seines Menschseins, die Gabe des Fliegens wurde ihm wiedergegeben, als er sich in ein ätherisches Wesen aus erleuchteter Luft verwandelte. Er wäre imstande gewesen, augenblicklich, von diesem geschwärzten Ufergeländer abzuheben und über den alten grauen Fluss zu schweben; oder von einer der Brücken zu springen und nie wieder festen Boden zu berühren. Also: es wurde Zeit, der Stadt einen überwältigenden Anblick zu bieten, denn wenn sie den Erzengel Gibril sahen, der in all seiner Majestät auf dem westlichen Horizont stand, in das Licht der aufgehenden Sonne getaucht, dann würden sich ihre Bewohner gewiss sehr fürchten und ihre Sünden bereuen.
    Er begann sich zu vergrößern.
    Wie erstaunlich dann, dass von all den Autofahrern, die am Ufer entlangfuhren - immerhin herrschte Berufsverkehr - nicht

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