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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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verstummt und eilt weiter.
    Die Stadt wird undeutlich, amorph. Es wird unmöglich, die Welt zu beschreiben. Pilgerfahrt, Prophet, Widersacher verschwimmen, treiben in einen Nebel, tauchen wieder auf. So auch sie: Allie, Al-Lat. Sie ist der erhabene Vogel. Überaus begehrenswert. Jetzt erinnert er sich: Vor langer Zeit hat sie ihm von Jumpys Gedichten erzählt. Er möchte gern eine Sammlung machen. Ein Buch. Der daumenlutschende Künstler mit seinen infernalischen Ansichten. Ein Buch ist das Produkt eines Pakts mit dem Teufel, das den Faustischen Vertrag verkehrt, hatte Jumpy zu Allie gesagt. Dr. Faustus opferte die Ewigkeit für zwei Dutzend Jahre der Macht; der Schriftsteller akzeptiert die Zerstörung seines Lebens und gewinnt (aber nur, wenn er Glück hat) vielleicht nicht die Ewigkeit, so doch wenigstens die Nachwelt. Beide Male (das war Jumpys springender Punkt) gewinnt der Teufel.
    Was schreibt ein Dichter? Verse. Was dudelt in Gibrils Hirn?
    Verse. Was brach ihm das Herz? Verse und wieder Verse.
    Die Trompete, Asrael, ruft aus der Manteltasche: Hol mich heraus! Jajaja: die Posaune des Jüngsten Gerichts. Zum Teufel mit allem, der ganzen elenden Schweinerei: bläh einfach nur die Backen und dann ruuti-tuut-tuut-Los, komm, jetzt wird gefeiert.
    Wie heiß es ist: dampfend, drückend, unerträglich. Das ist nicht das Große London: nicht diese gemeine Stadt. Startbahn Eins, Mahagonny, Alphaville. Er wandert durch ein Sprachenwirrwarr. Babel: eine Verkürzung des assyrischen »babilu«. »Die Tore Gottes.« Babylondon.
    Wo ist das?
    - Ja. - Eines Nachts wandert er hinter den Kathedralen der Industriellen Revolution, den Endbahnhöfen Nordlondons. Der anonyme King’s Cross, die fledermausartige Drohung des Turms von St. Pancras, die rot-schwarzen Gasbehälter, die sich gigantischen eisernen Lungen gleich aufblähen und wieder zusammensinken. Wo einst Königin Boudicca in der Schlacht fiel, ringt Gibril Farishta mit sich selbst.
    Der Goodsway. Oh, welch saftige Waren lungern in Hauseingängen und unter Wolframlampen, welche Köstlichkeiten werden auf diesem Weg angeboten!
    Schaukelnde Handtäschchen, locken dich, silberngerockt, Netzstrumpfhosen: es sind nicht nur junge Waren (Durchschnittsalter dreizehn bis fünfzehn), sondern auch billige.
    Sie haben kurze, identische Geschichten: alle haben sie irgendwo ein Baby weggepackt, alle wurden sie von zornigen, puritanischen Eltern aus dem Haus geworfen, keine ist weiß.
    Luden mit Messern nehmen neunzig Prozent ihres Verdienstes.
    Schließlich sind Waren nur Waren, besonders, wenn sie Ramsch sind.
    Gibril Farishta auf dem Goodsway wird in Schatten und zu Lampen gerufen; und beschleunigt zunächst den Schritt. Was hat das mit mir zu tun? Blöde Massenmösen. Doch dann geht er langsamer und bleibt stehen, hört, wie etwas anderes ihm aus den Schatten und von den Lampen her zuruft, ein Bedürfnis, eine wortlose Bitte, verborgen unter den blechernen Stimmen von Zehn-Pfund-Nutten. Seine Schritte werden langsamer, halten inne. Er wird von ihrem Verlangen festgehalten. Wonach? Jetzt bewegen sie sich auf ihn zu, angezogen wie Fische an unsichtbaren Haken. Während sie sich ihm nähern, verändert sich ihr Gang, die Hüften wackeln nicht mehr, die Gesichter entsprechen ihrem Alter, trotz des dicken Make-ups. Als sie bei ihm sind, knien sie nieder. Was sagt ihr da, wer bin ich? fragt er und will hinzufügen: Ich kenne eure Namen. Ich bin euch schon einmal begegnet, woanders, hinter einem Vorhang. Zwölf seid ihr, wie damals. Aischa, Hafsah, Ramiah, Sawdah, Zainab, Zainab, Maimunah, Safia, Juwairiyah, Umm Salamah die Makhzumitin, Rehanah die Jüdin und die schöne Maria die Koptin. Schweigend verharren sie auf den Knien. Ihre Wünsche teilen sich ihm ohne Worte mit Was ist ein Erzengel anderes als eine Marionette. Kathputli, Marionette: Die Gläubigen beugen uns nach ihrem Willen. Wir sind Kräfte der Natur, und sie unsere Herren. Auch Herrinnen.
    Die Schwere seiner Glieder, die Hitze, und in seinen Ohren ein Summen wie von Bienen an einem Sommernachmittag. Es wäre leicht, in Ohnmacht zu fallen.
    Er fällt nicht in Ohnmacht.
    Er steht inmitten der knienden Kinder, wartet auf die Luden.
    Und als sie kommen, zieht er endlich sein unruhiges Horn hervor und presst es an die Lippen: den Würger, Asrael.
     
    Nachdem der Feuerstrom aus dem Mund seiner goldenen Trompete gefahren ist und die nahenden Männer verzehrt hat, sie in ein Flammenkokon gehüllt und so vollkommen ausgelöscht

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