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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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emphatisch. Mit sanfter Stimme, schließlich ist sie eben erst Waise geworden, bleibt er fest.
    »Was hier heute Nacht in Brickhall geschehen ist, ist ein soziopolitisches Phänomen. Sitzen wir nicht irgendeinem verdammten Mystizismus auf. Es geht hier um Geschichte: um ein Ereignis in der Geschichte Großbritanniens. Um den Prozess der Veränderung.«
    Sofort ändert sich Gibrils Stimme, ebenso sein Thema. Er erwähnt Pilger und ein totes Baby und wie in »Die zehn Gebote« und ein verfallendes Herrenhaus und einen Baum; denn nach dem reinigenden Feuer träumt er zum allerletzten Mal einen seiner Serienträume; und Hanif sagt: »Hör doch, Mishu, Liebling. Alles nur Schein, nichts weiter.« Er legt den Arm um sie, küsst sie auf die Wange, hält sie fest. Bleib bei mir.
    Die Welt ist wirklich. Wir müssen darin leben; wir müssen hier leben, weiterleben.
    In dem Moment schreit Farishta, noch immer im Schlaf, so laut er kann.
    »Mishal! Komm zurück! Es ist nichts! Mishal, um Himmels willen, kehr um, komm zurück, komm zurück.«

VIII

DIE TEILUNG DES ARABISCHEN MEERS

Srinivas, der Spielzeugfabrikant, hatte die Angewohnheit, seiner Frau und seinen Kindern von Zeit zu Zeit damit zu drohen, dass er eines Tages, wenn die materielle Welt ihren Reiz verloren hätte, alles einschließlich seines Namens hinschmeißen, Sanyasi werden und mit Bettelschale und Stock von Dorf zu Dorf wandern würde. Mrs. Srinivas ging mit diesen Drohungen nachsichtig um; sie wusste , dass ihr gallertartiger und gutgelaunter Gatte gern als frommer Mann angesehen wurde, aber auch ein wenig als Abenteurer (hatte er nicht vor Jahren in Amerika auf jenem absurden und furchterregenden Flug in den Grand Canyon bestanden?); die Vorstellung, er werde zu einem heiligen Bettelmann, befriedigte beide Bedürfnisse. Aber jedes Mal , wenn sie sah, wie sein üppiges Hinterteil es sich in einem Sessel auf der vorderen Veranda gemütlich gemacht hatte und durch ein dichtes Drahtgeflecht die Welt betrachtete, oder wenn sie ihm beim Spielen mit ihrer jüngsten Tochter, der fünfjährigen Minoo, zusah, oder wenn sie beobachtete, dass sein Appetit, weit entfernt, auf Bettelschalendimension zu schrumpfen, mit den Jahren willig wuchs, dann spitzte Mrs. Srinivas die Lippen, nahm den unbekümmerten Ausdruck einer Filmschönheit an (auch wenn sie ebenso pummelig und wabbelig war wie ihr Gatte) und ging pfeifend ins Haus. Daher traf es sie völlig unvorbereitet, als sie seinen Sessel leer vorfand, ein fast volles Glas Limonensaft auf einer Lehne.
    Um die Wahrheit zu sagen, konnte Srinivas selbst nie vernünftig erklären, was ihn veranlasste , die Behaglichkeit seiner morgendlichen Veranda zu verlassen und hinauszuschlendern, um die Ankunft der Dörfler von Titlipur zu beobachten. Die Gassenjungen, die alles schon eine Stunde vorher wussten , hatten auf der Straße etwas von einer unglaublichen Prozession von Menschen geschrien, die mit Sack und Pack den Kartoffelpfad in Richtung der großen Fernstraße gezogen kamen, angeführt von einem Mädchen mit silbernem Haar, ein Riesenschwar m Schmetterlinge über den Köpfen, und, in einem olivgrünen Mercedes-Benz Kombi als Nachhut, Mirza Said Akhtar, der aussah, als sei ihm ein Mango-kern im Hals stecken geblieben.
    Trotz der Kartoffelsilos und berühmten Spielzeugfabriken war Chatnapatna nicht ein so großer Ort, als dass die Ankunft von einhundertfünfzig Menschen unbemerkt hätte vonstatten gehen können. Kurz bevor die Prozession eintraf, hatte Srinivas eine Abordnung seiner Fabrikarbeiter empfangen, die um Erlaubnis baten, die Arbeit für ein paar Stunden unterbrechen zu dürfen, damit sie Zeuge des großen Ereignisses sein konnten. Da er wusste , dass sie sich die Zeit sowieso nehmen würden, willigte er ein. Er selbst jedoch blieb noch eine Zeitlang stur auf seiner Veranda, versuchte, so zu tun, als verspürte er noch nicht die Schmetterlinge der Erregung in seinem geräumigen Magen. Später sollte er Mishal Akhtar anvertrauen:
    »Es war eine Vorahnung. Was soll ich sagen? Ich wusste , dass ihr nicht nur wegen einer Erfrischung gekommen wart. Sie war meinethalben hier.«
    Titlipur erreichte Chatnapatna in einem Chaos von quäkenden Babys, schreienden Kindern, knötternden Alten und öden Witzen von Osman mit dem Bum -Bum-Ochsen, um den Srinivas sich einen Dreck scherte. Dann informierten die Gassenjungen den Spielzeugkönig, dass sich unter den Reisenden auch die Frau und die Schwiegermutter des Zamindar Mirza Said

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