Die Satanischen Verse
Lebens hörte er ein Geräusch wie von einem Riesen, der einen Wald unter seinen Füßen zertrat, und roch einen Gestank wie vom Furz des Riesen, und er bemerkte, dass der Baum brannte. Er erhob sich aus seinem Stuhl und taumelte unsicher durch den Garten, um das Feuer zu beobachten, dessen Flammen Geschichten, Erinnerungen, Genealogien verzehrten, die Erde reinigten und zu ihm kamen, um ihn zu befreien, denn der Wind trieb das Feuer auf das Grundstück des Herrenhauses zu, so dass sehr bald, sehr bald, die Reihe an ihm sein würde. Er sah den Baum in tausend Stücke bersten und den Stamm brechen, wie ein Herz, dann wandte er sich ab und wankte zu der Stelle im Garten, wo Aischa gesessen hatte, als er sie zum ersten Mal erblickte, und jetzt spürte er, wie eine Schwerfälligkeit über ihn kam, eine große Schwere, und er legte sich nieder in den verwitterten Staub. Bevor er die Augen schloss , spürte er, wie etwas seine Lippen streifte, und sah die kleine Traube Schmetterlinge, die sich mühte, in seinen Mund einzudringen. Dann ergoss sich das Meer über ihn, und er war im Wasser neben Aischa, die auf wundersame Weise aus dem Körper seiner Frau trat… »Öffnet euch«, rief sie. »Öffnet euch weit!« Fangarme aus Licht wallten von ihrem Nabel, und er hieb nach ihnen mit der Handkante.
»Öffnet euch, schrie sie. »Ihr seid so weit gegangen, jetzt macht auch noch den letzten Schritt.« Wie war es möglich, dass er ihre Stimme hörte? Sie waren unter Wasser, verloren im Tosen des Meers, doch er konnte sie deutlich hören, alle konnten sie hören, diese Stimme, die wie eine Glocke war.
»Öffnet euch«, sagte sie. Er verschloss sich.
Er war eine Festung mit dröhnenden Toren. Er war am Ertrinken. Auch sie war am Ertrinken. Er sah, wie das Wasser in ihren Mund drang, hörte, wie es in ihren Lungen gurgelte. Dann wehrte sich etwas in seinem Innern dagegen, entschied sich anders, und in dem Augenblick, da sein Herz brach, öffnete er sich.
Sein Körper brach vom Adamsapfel zu den Lenden auf, so dass sie tief in ihn hineingreifen konnte, und nun war sie offen, alle waren sie offen, und in dem Augenbli ck, als sie sich öffneten, teilten sich die Wasser, und sie gingen nach Mekka über den Grund des Arabischen Meers.
IX
EINE WUNDERBARE LAMPE
Achtzehn Monate nach seinem Herzinfarkt schwang Saladin Chamcha sich wieder in die Lüfte; der Grund war ein Telegramm des Inhalts, dass sein Vater sich im letzten Stadium multipler Myelomalazie befinde, einem systemischen Knochenmarkskrebs, der »hundert Prozent tödlich« sei, wie Chamchas Hausärztin es unsentimental formulierte, als er sich telefonisch bei ihr danach erkundigte. Seit Changez Chamchawala Saladin den Erlös aus dem gefällten Walnussbaum geschickt hatte, was Ewigkeiten her war, hatte es keinen nennenswerten Kontakt zwischen Vater und Sohn gegeben. Saladin hatte ihm in wenigen Worten mitgeteilt, dass er die Bostan-Katastrophe überlebt habe, worauf er ein noch knapperes Schreiben erhalten h atte: »Mitteilung erh. Hatte d. Information schon vorl.« Als aber das Telegramm mit der schlechten Nachricht kam - unterzeichnet war es von der ihm unbekannten zweiten Frau seines Vaters, Nasreen II, der Ton recht ungeschminkt: VATER STIRBT + WENN DANN SOFORT KOMMEN + N CHAMCHAWALLA (MRS.) -, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass er nach einem Leben der verworrenen Beziehungen mit seinem Vater, nach langen Jahren gekreuzter Kabel und »unwiderruflicher Brüche«, wieder einer unkomplizierten Reaktion fähig war. Es war einfach und überwältigend dringend erforderlich, dass er Bombay erreichte, bevor Changez es für immer verließ.
Den größten Teil eines Tages verbrachte er in der Visumschlange vor der Konsularabteilung des India House und anschließend damit, einen dumpfen Beamten von der Dringlichkeit seines Antrags zu überzeugen. Idiotischerweise hatte er vergessen, das Telegramm mitzubringen, und wurde daraufhin beschieden, es sei »ein wesentliches Beweisstück.
Sehen sie, da könnte doch jeder kommen und sagen, sein Vater liegt im Sterben, nicht wahr? Um die Angelegenheit zu beschleunigen.« Chamcha schluckte mit Mühe seinen Ärger hinunter, platzte aber dann doch. »Sehe ich für Sie etwa wie ein khalistanischer Zelot aus?« Der Beamte zuckte die Schultern.
»Ich sage Ihnen, wer ich bin«, kläffte Chamcha, durch dieses Schulterzucken aufgebracht. »Ich bin das arme Schwein, das von Terroristen in die Luft gejagt wurde und wegen Terroristen
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