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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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gerade.« Doch niemand beachtete ihn; alle beobachteten, voll ehrfürchtigem Staunen, wie die Schmetterlinge ins Meer tauchten.
    Die Dörfler stießen Freudenschreie aus und tanzten ausgelassen. »Die Teilung! Die Teilung!« schrien sie.
    Umstehende riefen Mirza Said zu: »He, Sie, was macht sie denn so verrückt? Wir sehen überhaupt nicht, was da vor sich geht.«
    Aischa hatte begonnen, aufs Wasser zuzugehen, und Mishal wurde von ihren beiden Helfern mitgeschleppt. Said rannte ihr nach und wurde mit den Dörflern handgemein. » Lasst meine Frau los. Sofort! Verflucht! Ich bin euer Zamindar. Lasst sie los, nehmt eure dreckigen Finger weg!« Doch Mishal flüsterte: »Das werden sie nicht tun. Geh weg, Said, Du bist verschlossen. Das Meer öffnet sich nur denen, welche offen sind.« »Mishal!«
    kreischte er, doch ihre Füße waren bereits naß. Kaum hatte Aischa das Wasser betreten, fingen die Dörfler an zu rennen.
    Diejenigen, die nicht mehr konnten, kletterten auf den Rücken derer, die noch konnten. Ihre Babys im Arm, stürzten sich die Mütter von Titlipur ins Meer; Enkel trugen ihre Großmütter auf den Schultern und stürzten sich in die Wellen. Binnen Minuten war das ganze Dorf im Was ser, plantschte herum, fiel um, stand auf, bewegte sich stetig vorwärts, hin zum Horizont, ohne einen Blick zurück zum Ufer. Auch Mirza Said war im Wasser.
    »Kehr um«, beschwor er seine Frau, »es passiert nichts, kehr um.«
    Dicht am Wasser standen Mrs. Qureishi, Osman, der Sarpanch, Sri Srinivas. Mishals Mutter schluchzte operettenhaft: »O mein Kind, mein Kind. Was soll nur werden?«
    Osman sagte: »Wenn ihnen klar wird, dass es keine Wunder gibt, kehren sie um.« - »Und die Schmetterlinge?« fragte Srinivas ihn quengelnd. »Was war das? Ein Zufall?«
    Es dämmerte ihnen, dass die Dörfler nicht zurückkehren würden. »Sie müssen doch bald keinen Boden mehr unter den Füßen haben«, sagte der Sarpanch. »Wie viele von ihnen können schwimmen?« fragte Mrs. Qureishi heulend.
    »Schwimmen?« schrie Srinivas. »Seit wann können Dörfler schwimmen?« Sie brüllten einander an, als wären sie meilenweit voneinander entfernt, sprangen von einem Fuß auf den ändern, ihre Körper drängten sie, ins Wasser zu gehen, etwas zu tun. Sie sahen aus, als tanzten sie auf glühenden Kohlen. Der Befehlshaber der Polizeiabteilung, die zum Zwecke der Menschenmassenkontrolle abgestellt war, erschien, als Said gerade aus dem Wasser gerannt kam.
    »Was ist hier los?« fragte der Beamte. »Was ist das für ein Tumult?«
    »Haltet sie auf«, keuchte Mirza Said und deutete aufs Meer.
    »Sind das Irrgläubige?« fragte der Polizist.
    »Sie werden alle sterben«, entgegnete Said.
    Es war zu spät. Die Dörfler, deren Köpfe man in der Ferne auf und ab wippen sah, hatten den Rand des Unterwasserschelfs erreicht. Nahezu gleichzeitig verschwanden sie unter die Wasseroberfläche, ohne jeden sichtbaren Versuch, sich zu retten. Binnen weniger Augenblicke waren die Aischa-Pilger allesamt aus dem Blick verschwunden.
    Keiner von ihnen tauchte wieder auf. Kein einziger nach Luft schnappender Kopf, kein um sich schlagender Arm.
    Said, Osman, Srinivas, der Sarpanch und selbst die dicke Mrs. Qureishi rannten ins Wasser und schrien: »Um Gottes willen, kommt alle, helft.«
    Menschen in Gefahr zu ertrinken, wehren sich gegen das Wasser. Es ist wider die menschliche Natur, lammfromm weiterzugehen, bis das Meer einen verschlingt. Aber Aischa, Mishal Akhtar und die Dörfler aus Titlipur tauchten unter Wasser; und waren nicht mehr gesehen.
    Mrs. Qureishi wurde von einem Polizisten an Land gezogen, blau im Gesicht, die Lungen voller Wasser, und bedurfte des lebenspendenden Kusses. Osman, Srinivas und der Sarpanch wurden wenig später herausgefischt. Nur Mirza Said Akhtar schwamm weiter, immer weiter hinaus aufs Meer, blieb für immer längere Zeiten unter Wasser; bis auch er aus dem Arabischen Meer gerettet wurde, verausgabt, kotzend, einer Ohnmacht nahe. Die Pilgerfahrt war vorüber.
    Mirza Said erwachte in einem Krankenhauszimmer und sah einen Mann von der Kriminalpolizei an seinem Bett sitzen. Die Behörden prüften, ob sie gegen die Überlebenden der Aischa-Expedition Anklage wegen versuchter illegaler Auswanderung erheben sollten, und man hatte Kriminalbeamte damit beauftragt, ihren Geschichten auf den Grund zu gehen, bevor sie Gelegenheit hatten, sich abzusprechen.
    Folgendes war die Aussage des Sarpanch von Titlipur, Muhammad Din: »Gerade als mich die

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