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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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dessen Fenster voll mit Freundinnen von Filmstars waren, die ihre neuen Polaroid-Kameras ausprobierten; als die Pilger spürten, wie der Asphalt der Stadt zu Kies und dann zu weichem Sand wurde; als sie auf einmal durch einen dicken Mulch aus modernden Kokosnüssen weggeworfenen Zigarettenschachteln Ponykacke nicht abbaubaren Flaschen Obstschalen Quallen und Papier wateten, dann über mittelbraunen Sand, überragt von hohen, geneigten Kokospalmen und den Baikonen von Luxus-Seeblick-Wohnblocks, vorbei an Horden junger Männer, deren Muskeln so trainiert waren, dass sie wie missgebildet aussahen, und die im Gleichtakt gymnastische Verrenkungen aller Art vollführten, gleich einer mordlüsternen Armee Balletttänzer , und an Strandgutsammlern, Clubvolk und Familien vorbei, die zum Luftschnappen gekommen waren, wegen Geschäftskontakten oder um ihren Lebensunterhalt aus dem Sand aufzulesen, und zum ersten Mal in ihrem Leben das Arabische Meer erblickten.
    Mirza Said sah Mishal, die von zwei Dörflern gestützt wurde, da sie nicht mehr kräftig genug war, um allein zu stehen. Aischa war neben ihr, und Said kam der Gedanke, dass die Prophetin irgendwie aus der sterbenden Frau herausgetreten war, dass all der Glanz Mishals aus ihrem Körper gesprungen war, diese mythologische Gestalt angenommen und eine Hülle zum Sterben zurückgelassen hatte. Dann war er wütend auf sich, weil er zugelassen hatte, dass Aischas Wunderglaube auch ihn ansteckte.
    Die Leute aus Titlipur hatten sich nach einer langen Diskussion, an der nicht teilzunehmen sie Aischa gebeten hatten, entschieden, ihr zu folgen. Der gesunde Menschenverstand sagte ihnen, dass es töricht wäre, jetzt, da sie so weit gekommen waren und ihr erstes Ziel in Sicht war, umzukehren; aber der neue Zweifel in ihren Köpfen entzog ihnen die Kraft. Es war, als tauchten sie aus einem Shangri-La Aischas auf, denn jetzt liefen sie einfach hinter ihr her, statt ihr im eigentlichen Sinn zu folgen; mit jedem Schritt, den sie taten, schienen sie älter und kränker zu werden. Als sie dann das Meer sahen, waren sie ein lahmer, wackliger, rheumatischer, fiebriger, rotäugiger Haufen, und Mirza Said fragte sich, wie viele von ihnen die letzten Meter zum Wasser schaffen würden.
    Die Schmetterlinge waren bei ihnen, hoch über ihren Köpfen.
    »Was jetzt, Aischa?« rief Said ihr zu, von der entsetzlichen Vorstellung erfüllt, seine geliebte Frau könnte hier unter den Hufen gemieteter Ponys und den Augen von Zuckerrohrsaftverkäufern sterben. »Du hast uns alle bis an den Rand des Untergangs gebracht, hier aber ist eine unzweifelhafte Tatsache: das Meer. Wo ist jetzt dein Engel?«
    Mit Hilfe der Dörfler kletterte sie auf einen ungenutzten Thela, der neben einem Limonadenstand lag, und antwortete Said erst, als sie von ihrem neuen »Thron« auf ihn herabblicken konnte. »Gibril sagt, das Meer ist wie unsere Seele. Öffnen wir sie, können wir zur Weisheit hindurchschreiten. Wenn wir unser Herz öffnen können, dann können wir auch das Meer öffnen.«
    »An Land hier war die Teilung eine ziemliche Katastrophe«, zog er sie auf. »Einige sind gestorben, wie du dich vielleicht erinnerst. Glaubst du, im Wasser wird das anders?«
    »Psst«, sagte Aischa plötzlich. »Der Engel ist ganz nah.«
    Eigentlich war es überraschend, dass nach all der Aufmerksamkeit, die der Marsch erhalten hatte, sich nur eine bescheidene Menge am Strand versammelt hatte; doch hatten die Behörden allerlei Vorsichtsmaßnahmen getroffen, Straßen gesperrt, den Verkehr umgeleitet, so dass vielleicht zweihundert Gaffer am Strand waren. Kein Grund zur Aufregung also.
    Merkwürdig war indes, dass die Zuschauer die Schmetterlinge nicht sahen und auch nicht, was sie als nächstes taten. Mirza Said hingegen sah deutlich, wie die große leuchtende Wolke hinaus aufs Meer flog; innehielt; schwebte; und sich zu der Gestalt eines kolossalen Wesens formte, eines strahlenden Riesen, der gänzlich aus winzigen schlagenden Flügeln bestand, die von Horizont zu Horizont reichten und den ganzen Himmel bedeckten.
    »Der Engel!« rief Aischa den Pilgern zu. »Jetzt seht ihr es selbst! Er war die ganze Zeit bei uns. Glaubt ihr mir jetzt?«
    Mirza Said sah, wie absoluter Glaube die Pilger wieder erfüllte.
    »Ja«, weinten sie und baten um Vergebung. »Gibril! Gibril! Ya Allah.«
    Mirza Said unternahm seinen letzten Versuch. »Wolken nehmen viele Formen an«, schrie er. »Elefanten, Filmstars, alles. Seht doch, sie verändert sich

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