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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Bhupen Ghandi plötzlich und etwas unsicher auf und begann, wie von einem Geist besessen, Zeugnis abzulegen. »Für mich«, sagte er, »ist das Problem nicht ausländische Intervention. Stets üben wir Nachsicht mit uns, indem wir Außenstehende beschuldigen, Amerika, Pakistan, irgendein verfluchtes Land. Entschuldige, George, aber meines Erachtens lässt sich alles auf Assam zurückführen, damit müssen wir anfangen.« Der bethlehemitische Kindermord. Fotos von Kinderleichen, ordentlich aufgereiht wie paradierende Soldaten. Sie waren erschlagen worden mit Knüppeln, gesteinigt, ihnen war die Kehle durchgeschnitten worden. Diese ordentlichen Reihen des Todes, erinnerte sich Chamcha. Als ob nur das Grauen Indien zur Ordnung zwingen könne.
    Bhupen redete neunundzwanzig Minuten lang, ohne zu stocken, ohne Pause. »Uns al le trifft die Schuld an Assam«, sagte er. »Jeden von uns. Erst wenn wir zugeben, dass der Tod dieser Kinder unsere Schuld war, dürfen wir uns ein zivilisiertes Volk nennen.« Während er sprach, stürzte er Rum hinunter, seine Stimme wurde lauter, sein Körper begann, sich gefährlich vornüber zu neigen, doch obgleich im Raum Schweigen herrschte, kam niemand auf ihn zu, versuchte niemand, ihn zurückzuhalten, nannte ihn niemand einen Trunkenbold. Mitten in einem Satz, alltägliche Betrügereien, oder Schießereien, oder Bestechungen, wer glauben wir, dass wir, setzte er sich schwerfällig und starrte in sein Glas.
    Jetzt stand ein junger Mann in einer anderen Ecke der Kneipe auf und gab ihm Kontra. Man müsse Assam politisch verstehen, rief er, es habe wirtschaftliche Gründe gegeben, und dann erhob sich ein weiterer Mann, um darauf zu antworten, finanzielle Probleme seien keine Erklärung dafür, warum ein erwachsener Mann ein kleines Mädchen erschlage, und dann sagte noch ein anderer, wenn du das glaubst, hast du nie Hunger gehabt, Salah, wie scheißromantisch anzunehmen, dass wirtschaftliche Gründe Menschen nicht zu wilden Tieren machen können. Während der Lärmpegel stieg, griff Chamcha nach seinem Glas, und die Luft schien sich zu verdichten, Goldzähne blitzten ihm ins Gesicht, Schultern rieben sich an seinen, Ellbogen stießen ihn in die Rippen, die Luft wurde zum Schneiden dick, und in seiner Brust hatte sein Herz angefangen zu flattern. George fasste ihn am Handgelenk und zog ihn auf die Straße. »Alles in Ordnung, Mann? Du warst ganz grün im Gesicht.« Saladin nickte dankend, pumpte seine Lunge voll mit der Nacht, beruhigte sich. »Der Rum und die Erschöpfung«, sagte er. »Merkwürdigerweise ist es bei mir so, dass ich nach jeder Vorstellung mit den Nerven am Ende bin. Ziemlich oft wird mir mulmig. Ich hätte es wissen müssen.« Zeeny sah ihn an, und in ihren Augen lag mehr als Mitgefühl. Ein funkelnder Blick, triumphierend, hart. Etwas ist zu dir durchgedrungen, besagte ihr hämischer Ausdruck. Was die verfluchte Zeit betrifft.
    Nachdem man vom Typhus genesen ist, überlegte Chamcha, bleibt man etwa zehn Jahre gegen diese Krankheit immun.
    Aber nichts dauert ew ig; irgendwann verschwinden die Antikörper aus dem Blut. Er musste sich mit der Tatsache abfinden, dass sein Blut die Immunstoffe nicht mehr enthielt, die es ihm ermöglicht hätten, die Realität Indiens zu ertragen. Rum, Herzflattern, seelische Übelkeit. Zeit, schlafen zu gehen.
    Sie nahm ihn nie mit zu sich nach Hause. Immer und ausschließlich das Hotel, in dem Araber mit goldenen Medaillons in den mitternächtlichen Korridoren mit geschmuggelten Whiskyflaschen in der Hand auf und ab stolzierten. Er lag auf dem Bett, Schuhe an, Hemdkragen offen, Krawatte gelockert, den rechten Arm über die Augen gelegt; sie, im weißen hoteleigenen Bademantel, beugte sich über ihn und küsste sein Kinn. »Ich werde dir sagen, was heute Abend mit dir passiert ist«, sagte sie. »Man könnte behaupten, wir haben deine Schale geknackt.«
    Er setzte sich auf, voll Zorn. »Und das kommt zum Vorschein«, fuhr er sie an. »Ein Inder, verwandelt in einen Engländer, halb durch. Wenn ich mich dieser Tage in Hindustani versuche, setzen die Leute eine höfliche Miene auf.
    Das bin ich.« Im Aspik der von ihm angenommenen Sprache gefangen, hatte er, im Babel Indiens, eine unheilkündende Warnung vernommen: Komm nicht zurück. Bist du einmal durch den Spiegel geschritten, schreitest du auf eigene Gefahr zurück. Der Spiegel könnte dich in Stücke schneiden.
    »Ich war heute Abend so stolz auf Bhupen«, sagte Zeeny und stieg ins Bett. »Wo,

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