Die Satanischen Verse
Wesen mit Mängeln und Schwächen, das sie war. Wenn der Vollmond untergeht, in der Dunkelheit vor dem Morgengrauen, kommt ihre Stunde. Geblähte Segel, blanke Ruder, und Wilhelm der Eroberer am Bug des Flaggschiffs, das über den Strand hinaufzieht, mitten durch die hölzernen, muschelüberzogenen Wellenbrecher und die paar umgedrehten Skullboote. Oh, ich habe im Leben schon so mancherlei gesehen, hatte ja immer diese Gabe, dieses Geister-Gesicht.
Wilhelm der Eroberer, in spitzem Helm mit Visier, wie er zu ihrer Tür hereinkommt, zwischen den Teetischchen und den Sofas mit Schonbezügen hindurchschwebt, gleich einem Echo, das leise durch das Haus der Erinnerungen und Sehnsüchte hallt und verstummt; dann: Totenstille.
Als junges Mädchen stand ich einmal auf dem Battle Hill, erzählte sie immer gern und mit immer denselben, von der Zeit abgeschliffenen Worten, das einzige Kind weit und breit, fand ich mich plötzlich, doch ohne mich zu wundern, mitten im Schlachtengetümmel wieder. Langbögen, Keulen, Piken. Die Flachshaar-Sachsen, dahingerafft in der Blüte ihrer Jugend.
König Harold mit dem Pfeil im Auge und Wilhelm mit dem Mund voller Sand. Ja, diese Gabe, dieses Geister-Gesicht. Die Geschichte von jenem Tag, an dem das Mädchen Rosa eine Vision von der Schlacht von Hastings gehabt hatte, war für die alte Frau einer der Meilensteine ihres Daseins, obgleich sie sie schon so oft erzählt hatte, dass niema nd, nicht einmal die Erzählerin selbst, hätte mit Gewissheit sagen können, ob sie der Wahrheit entsprach. Manchmal sehne ich mich danach zurück, dachte Rosa wie gewohnt. Ach, die guten alten Zeiten: les beaux jours. Sie schloss noch einmal ihre erinnerungsschweren Augen. Und als sie sie wieder öffnete, sah sie, wie sich unten, am Rande des Wassers, kein Zweifel möglich, auf einmal etwas bewegte.
Worauf sie in ihrer Aufregung laut sagte: »Das glaube ich nicht!« - »Das ist nicht wahr!« - »Er kann doch nicht hier sein!«
Rosa, auf wackligen Beinen, mit klopfendem Herzen, schnappte sich Hut, Umhang, Stock. Während unten an der winterlichen Meeresküste Gibril Farishta erwachte, mit einem Mund voller, nein, nicht Sand.
Schnee.
Pfft!
Gibril spuckte; sprang auf, als würde er angetrieben von ausgehustetem Schneematsch, wünschte Chamcha - wie schon berichtet - alles Gute zum Geburtstag; und klopfte sich erst einmal den Schnee von den durchnässten purpurroten Ärmeln. »Herrgott, yaar«, rief er und hüpfte dabei von einem Fuß auf den anderen. »Kein Wunder, dass die Leute hier Herzen aus Eis haben.«
Aber dann war die schiere Freude über diese Massen von Schnee um ihn herum doch stärker als sein anfänglicher Zynismus - er kam eben aus den Tropen -, und Gibril Farishta, dunkel und durchnässt , legte los, machte Luftsprünge, warf mit Schneebällen auf seinen bäuchlings daliegenden Gefährten, dachte an einen Schneemann und sang eine wilde, stürmische Version des Weihnachtsliedes »Jingle Bells«. Die ersten Anzeichen der Dämmerung erschienen am Himmel, als an dieser idyllischen Meeresküste Luzifer tanzte, der Stern des Morgens.
Sein Atem, das sollte nicht unerwähnt bleiben, roch aus irgendwelchen Gründen nach gar nichts mehr…
»Na, komm schon, Baby«, rief der unbezwingbare Gibril, dessen Verhalten de r Leser mit gutem Grund auf die bestürzenden, derangierenden Auswirkungen seines kürzlich überstandenen Falles zurückführen mag. »Auf, du Faulpelz!
Lasse uns diesen Ort im Sturm erobern!« Dabei drehte er dem Meer den Rücken zu, löschte die schlechten Erinnerungen aus, um Platz für Neues zu schaffen, denn der Reiz des Neuen war nach wir vor ungeheuer groß für ihn, und er hätte sogar eine Fahne in den Schnee gepflanzt (wenn er eine besessen hätte), um im Namen von Wer-weiß-wem Anspruch auf dieses weiße Land, sein neugefundenes Land, zu erheben. »Spoono«, bat er, »rühr dich, Baba, verdammt noch mal, oder bist du tot?«
Worte, die den Sprecher wieder zur (oder zumindest an den Rand der) Besinnung brachten. Er beugte sich über die ausgestreckt daliegende Gestalt, wagte aber nicht, sie zu berühren. »Jetzt doch nicht, Chumch, mein Alter«, drängte er.
»Jetzt doch nicht, wo wir’s so weit geschafft haben.«
Saladin: war nicht tot. Er weinte. Die Tränen der Erschütterung gefroren auf seinem Gesicht. Und sein ganzer Körper war umhüllt von einer dünnen Haut aus Eis, glatt wie Glas; als wäre ein böser Traum Wirklichkeit geworden. In sei ner miasmatischen
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