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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wird niemals Zugeständnisse machen, aber du tatest es. Dann sagten wir, Mahound hat uns verraten, aber du brachtest uns eine tiefere Wahrheit. Du brachtest uns den Teufel persönlich, damit wir Zeugen des Wirkens des Bösen und seiner Vernichtung durch den Rechten sein konnten. Du hast unseren Glauben bereichert. Es tut mir leid, was ich gedacht habe.«
    Mahound entfernt sich vom Sonnenlicht, das durch das Fenster fällt. »Ja.« Bitterkeit, Zynismus. »Wundervoll, was ich da tat. Tiefere Wahrheit. Euch den Teufel bringen. Ja, das sieht mir ähnlich.«
     
    Auf dem Gipfel des Mount Cone sieht Gibril zu, wie die Gläubigen aus Jahilia fliehen, die Stadt der Trockenheit aufgeben für den Ort von kühlen Palmen und Wasser, Wasser, Wasser. In kleinen Gruppen, mit nahezu leeren Händen, durchqueren sie das Reich der Sonne, an diesem ersten Tag des ersten Jahres des Neubeginns der Zeit, die selbst neu geboren ist, während das Alte hinter ihnen stirbt und das Neue vor ihnen wartet. Und eines Tages macht auch Mahound sich davon. Als seine Flucht entdeckt wird, verfasst Baal eine Abschiedsode:
    Was für eine Art Idee Scheint UNTERWERFUNG heut’? Eine Religion in spe, Eine Idee der Furchtsamkeit.
    Mahound hat seine Oase erreicht: Gibril hat nicht so viel Glück, oft sitzt er jetzt allein auf dem Gipfel des Mount Cone, benetzt von kalten Sternschnuppen, und dann fallen sie vom nächtlichen Himmel über ihn her, die drei geflügelten Wesen, Lat Uzza Manat, flattern u m seinen Kopf, zielen mit ihren Klauen nach seinen Augen, beißen ihn, peitschen ihn mit ihrem Haar, ihren Flügeln. Er hebt die Hände, um sich zu schützen, aber ihre Rache ist unermüdlich, geht weiter, sobald er ausruht, sobald er nicht auf der Hut ist. Er kämpft gegen sie, aber sie sind schneller, beweglicher, geflügelt.
    Er hat keinen Teufel, den er widerrufen könnte. Da er träumt, kann er sie nicht fortwünschen.

III

ELLOHENN DEEOHENN

1

    Ich weiß, was ein Geist ist, versicherte sich die alte Frau stumm. Sie hieß Rosa Diamond; sie war achtundachtzig Jahre alt; und sie blinzelte mit vorgerecktem Kopf durch ihre salzverkrusteten Schlafzimmerfenster hinaus auf das Meer unter dem Vollmond. Und ich weiß auch, was keiner ist, nickte sie vor sich hin, es ist kein Schreckgespenst oder flatterndes Bettlaken, ach, papperlapapp, das ist doch Humbug. Und was ist ein Geist? Eine unerledigte Geschichte, weiter nichts.
    Woraufhin die alte Dame, einsachtzig groß, aufrecht, das Haar kurzgeschnitten wie ein Mann, befriedigt ihr Tragödinnengesicht aufsetzte - heruntergezogene Mundwinkel, schmollende Lippen -, sich einen selbstgestrickten blauen Schal um die knochigen Schultern legte und einen Moment lang die immerwachen Augen schloss , um darum zu beten, dass die Vergangenheit zurückkehren möge. Kommt doch, ihr normannischen Schiffe, flehte sie: zeig dich endlich, Wilder Wilhelm.
    Vor neunhundert Jahren war das alles noch unter Wasser gewesen, dieses Uferstück, der private Kiesstrand, der steil anstieg bis zu der kleinen Reihe Villen mit abblätterndem Anstrich und den Bootshäusern aus verwitterndem Holz, die als Abstellkammer für Liegestühle dienten, für leere Bilderrahmen, uralte Bonbonschachteln, vollgestopft mit Briefen, gebündelt und mit Schleifchen versehen, eingemottete Seiden-und Spitzenunterwäsche, tränenbefleckte Jungmädchenlektüre, Lacrosseschläger, Briefmarkenalben und all die vergrabenen Schatzkästchen voller Erinnerungen und verlorener Zeit. Die Küstenlinie hatte sich verändert, hatte sich etwa eine Meile weit ins Meer vorgeschoben und damit die erste normannische Burg fern vom Wasser auf dem trockenen sitzenlassen oder vielmehr im nasskalten Marschland, das die Armen, die dort auf ihren wiesagtman Besitzungen w ohnten, mit dumpfen, nasskalten , fiebrigen Plagen heimsuchte. Für sie, die alte Dame, war die Burg ein Fischskelett, das die See in uralten Zeiten verschmäht hatte; ein versteinertes Meeresungeheuer. Neunhundert Jahre!
    Neun Jahrhunderte zuvor war die normannische Flotte geradewegs durch das Haus dieser englischen Dame gesegelt.
    Und die wartete nun, in klaren Nächten, bei Vollmond, auf die Wiederkehr der normannischen Geister.
    Der beste Platz, um sie kommen zu sehen, sagte sie sich, Tribünenplatz. Ständige Wiederholung war ihr in ihrem ehrwürdigen Alter zum Trost geworden; abgenutzte Ausdrücke wie unerledigte Geschichte oder Tribünenplatz gaben ihr das Gefühl, robust, zeitlos, unvergänglich zu sein und nicht das

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