Die Satanischen Verse
halbes Jahrhundert lang gehütet hatte, und Gibril ritt hinter ihrem Hispano-Suiza her, mit dem sie von Estancia zu Estancia fuhr, durch einen Wald von Arayanabäumen unter den hochragenden Kordilleren, und Halt machte bei den absonderlichsten Gutshöfen, erbaut im Stil von schottischen Burgen oder indischen Paläs ten, bei den Ländereien von Mr. Cadwallader Evans mit seinen sieben Ehefrauen, die alle herzlich froh darüber waren, dass sie nur eine Nacht pro Woche Dienst hatten, und dem Grundbesitz des berühmt-berüchtigten MacSween, der außerordentlich angetan war von den modernen Ideen aus Deutschland, die seit neuestem nach Argentinien herüberkamen, und angefangen hatte, am Fahnenmast eine rote Fahne zu hissen, in deren Mitte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis tanzte. Und auf der MacSween-Estancia geschah es, dass sie die Lagune fanden und Rosa zum ersten Mal die weiße Insel ihres Schicksals sah und darauf bestand, hinauszurudern, um dort ein mittägliches Picknick abzuhalten, ohne die Begleitung von Dienstmädchen oder Chauffeur, nur mit Martin de la Cruz, der das Boot rudern, ein scharlachrotes Tuch auf dem weißen Sand ausbreiten und ihr Fleisch und Wein servieren würde.
Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz. Als sie sich in schwarzem Rock und weißer Bluse zurücklehnte, sich auf Scharlachrot legte, das wiederum auf Weiß lag, während er (der auch in schwarz und weiß gekleidet war) roten Wein in das Glas in ihrer weißbehandschuhten Hand goss und dann, zu seiner eigenen Überraschung, gottverdammt, als er nach ihrer Hand griff und sie zu küssen begann, da geschah etwas, die Szene wurde undeutlich, noch vor einer Minute lagen sie auf dem scharlachroten Tuch, rollten darüber hinweg, so dass Käse und kalter Aufschnitt und Salate und Pasteten unter dem Gewicht ihres Verlangens zerdrückt wurden, und als sie zum Hispano-Suiza zurückkehrten war es unmöglich, irgendetwas vor Chauffeur oder Dienstmädchen zu verbergen, wegen der Flecken auf ihrer Kleidung, während sie schon im nächsten Moment vor ihm zurückwich, nicht aus Grausamkeit, sondern voller Trauer ih re Hand wegzog und eine winzige Kopfbewegung machte, nein, und er dastand, sich verneigte, sich entfernte, sie mit unversehrter Tugend und Mittagstafel zurückließ. Diese beiden Möglichkeiten wechselten einander dauernd ab, während sich die sterbende Rosa auf ihrem Bett hin und her warf, hatte-sie-hatte-sie-nicht, an der letzten Version der Geschichte ihres Lebens arbeitete und sich nicht entscheiden konnte, was für sie die Wahrheit sein sollte.
»Ich werde verrückt«, dachte Gibril. »Sie liegt im Sterben, aber ich verliere den Verstand.« Der Mond schien, und Rosas Atem war das einzige Geräusch im Raum: ein Schnarchen, wenn sie Luft holte, und kleine Grunzlaute beim Ausatmen.
Gibril versuchte, sich aus seinem Sessel zu erheben, aber es gelang ihm nicht. Selbst in den kurzen Zeiträumen zwischen den verschiedenen Visionen blieb sein Körper unglaublich schwer. Als wäre ihm ein Wackerstein auf die Brust gelegt worden. Und die Bilder kamen weiterhin in einer konfusen Reihenfolge, so dass er im einen Augenblick auf Los Alamos im Heu mit ihr lag und sie liebte, während sie seinen Namen murmelte, immer wieder, Martin vom Kreuz, und sie ihm im nächsten Moment, am helllichten Tag, vor den aufmerksamen Augen einer gewissen Aurora del Sol, die kalte Schulter zeigte, so dass es nicht möglich war, Erinnerungen von Wünschen zu unterscheiden oder schuldbewusste Rekonstruktionen von Beichtstuhl-Wahrheiten, weil Rosa Diamond selbst auf dem Totenbett nicht wusste , wie sie ihrer Geschichte ins Auge sehen sollte.
Mondlicht strömte ins Zimmer. Als die Strahlen auf Rosas Gesicht fielen, schienen sie geradewegs durch sie hindurchzugehen, und tatsächlich konnte Gibril schon bald die Spitzenstickerei auf ihrem Kopfkissen erkennen. Dann sah er Don Enrique und seinen Freund, den puritanischen und überkritischen Dr. Babington, auf dem Balkon stehen, wie zwei Menschen aus Fleisch und Blut. Und es kam ihm der Gedanke, dass die Erscheinungen an Deutlichkeit zunahmen, je schwächer Rosa wurde, je mehr sie dahinschwand; dass sie sozusagen die Plätze mit den Geistern tauschte. Und da er zudem begriffen hatte, dass die Materialisationen mit ihm verbunden waren, mit seinen Bauchschmerzen, seiner Steinesschwere, begann er, auch um sein eigenes Leben zu fürchten.
»Du wolltest, dass ich Juan Julias Todesurkunde fälsche«, sagte Dr.
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