Die Satanischen Verse
mitternächtlichen Strand gelaufen kam, in Richtung Martello-Turm und Ferienlager - am Wasserrand, so dass die Flut seine Fußspuren verwischte -, was da fintenreich, hakenschlagend um sein Leben rannte, war ein leibhaftiger, ausgewachsener Strauß. Er floh über den Strand, und Gibrils Augen folgten ihm voller Erstaunen, bis er in der Dunkelheit nicht länger zu erkennen war.
Das nächste Ereignis trug sich im Dorf zu. Sie waren losmarschiert, um einen Kuchen und eine Flasche Champagner zu kaufen, denn Rosa war eingefallen, dass sie an diesem Tag ihren neunundachtzigsten Geburtstag hatte. Ihre Familie war schon lange aus ihrem Leben verbannt, also hatte sie auch keine Glückwunschkarten oder Anrufe bekommen. Gibril bestand darauf, irgendeine Art von Feier mit ihr zu veranstalten, und zeigte ihr das Geheimnis unter seinem Hemd, einen dicken Geldgürtel, voll mit englischen Pfundnoten, die er sich vor seiner Abreise aus Bombay auf dem Schwarzmarkt besorgt hatte. »Außerdem jede Menge Kreditkarten«, sagte er. »Ich bin kein mittelloser Bursche. Na, kommen Sie schon. Ich lade Sie ein.« Er war so tief in den Bann von Rosas Erzählzauber geraten, dass er von Tag zu Tag weniger an das dachte, was auf ihn wartete, sein Leben, eine Frau, die er zumindest mit der Tatsache überraschen musste , dass er am Leben war, oder etwas in der Art. Stattdessen trug er bescheiden Mrs. Diamond die Einkaufstaschen nach.
Er stand an einer Straßenecke herum, während Rosa noch mit dem Bäcker schwatzte, als er wieder den Haken in seinem Bauch spürte, und er fiel gegen einen Laternenpfahl und schnappte nach Luft. Er hörte etwas, das wie Klipp-Klapp klang, und dann kam ein uraltes Pony-Gespann um die Ecke, voll beladen mit jungen Leuten in einer Kleidung, die ihm zuerst ganz modern erschien: die Männer in engen schwarzen Hosen, unter den Knien mit Silberknöpfen besetzt, die weißen Hemden fast bis zur Taille offen; die Frauen in weiten Röcken mit Rüschen und Spitzen und in leuchtenden Farben, scharlachrot, smaragdgrün, goldgelb. Sie sangen in einer fremden Sprache und ihr Frohsinn ließ die Straße düster und hässlich erscheinen, aber Gibril erkannte, dass da etwas Seltsames vor sich ging, denn außer ihm nahm kein Mensch auf der Straße Notiz von dem Ponywagen. Dann kam Rosa, die die Kuchenschachtel an einem Band um den linken Zeigefinger trug, und rief: »Ach, da sind sie ja schon auf dem Weg zum Tanz. Wir haben immer getanzt, das mögen sie, das liegt ihnen im Blut.« Und nach einer Pause: »Das war der Tanz, bei dem er den Geier tötete.«
Das war der Tanz, bei dem ein gewisser Juan Julia, wegen seines leichenhaften Aussehens auch der Geier genannt, zu viel trank und die Ehre von Aurora del Sol beleidigte und nicht aufhörte, bis Martin keine Wahl mehr blieb, als ihn zum Kampf zu fordern, he, Martin, wie kommt’s, dass es dir Spaß macht, mit ihr zu bumsen, ich fand sie ziemlich langweilig. »Gehen wir ein Stück«, sagte Martin, und in der Dunkelheit, in der ihre Gestalten sich gegen die bunten Lichter abhoben, die in den Bäumen rings um den Tanzboden hingen, wickelten die beiden Männer Ponchos um ihre Unterarme, zogen ihre Messer, umkreisten einander, kämpften. Juan starb. Martin de la Cruz hob den Hut des toten Mannes auf und warf ihn Aurora del Sol vor die Füße. Sie nahm den Hut und sah Martin davongehen.
Rosa Diamond, neunundachtzig Jahre alt, in einem langen silbernen Mantelkleid, mit einer Zigarettenspitze in der behandschuhten Hand und einem silbernen Turban auf dem Kopf, trank Gin-Wermut aus einem grünen, dreieckigen Glas und erzählte Geschichten aus der guten alten Zeit. »Ich möchte tanzen«, erklärte sie plötzlich. »Es ist mein Geburtstag, und ich habe noch nicht einmal getanzt.«
Die Strapazen jener Nacht, in der Rosa und Gibril bis zur Morgendämmerung tanzten, waren offenbar doch zu viel gewesen für die alte Dame, die am nächsten Tag im Bett blieb, erschöpft und mit einem leichtem Fieber, das immer phantastischere Erscheinungen hervorrief: Gibril sah Martin de la Cruz und Aurora del Sol auf dem ziegelgedeckten Giebeldach des Diamond-Hauses Flamenco tanzen, und auf dem Bootshaus standen Peronisten in weißen Anzügen und sprachen zu einer Versammlung von Peones über ihre Zukunft:
»Wenn Perón siegt, werden diese Ländereien enteignet und unter dem ganzen Volk aufgeteilt werden. Auch die britischen Eisenbahnen werden verstaatlicht werden. Schmeißen wir sie raus, diese Banditen, diese
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