Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
auf der Beerdigung von Martin de la Cruz. Wie man sich darauf verständigt hatte, dass niemand wegen Mordes angeklagt würde, unter der Bedingung, dass Don Enrique mit Dona Rosa auf schnellstem Wege nach England zurückkehrte.
    Wie sie am Bahnhof von Los Alamos in den Zug stiegen und die Männer mit den weißen Anzügen und den Borsalino-Hüten auf dem Bahnsteig standen, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich abreisten, wie Rosa Diamond, sobald sie losgefahren waren, die Reisetasche auf dem Nebensitz öffnete und herausfordernd sagte: Ich habe etwas mitgenommen. Ein kleines Souvenir. Und etwas aus einem Stoffbündel wickelte, ein Gauchomesser mit Silbergriff.
    »Henry starb im ersten Winter daheim. Das war alles. Der Krieg. Das Ende.« Sie machte eine Pause. »Mich in diese Enge einzupassen, nach solch ungeheurer Weite. Es ist nicht zum Aushalten.« Und nach einer weiteren Pause: »Alles schrumpft.«
    Dann veränderte sich das Mondlicht, und Gibril fühlte, wie ein Gewicht von ihm genommen wurde, so plötzlich, dass er dachte, gleich müsse er zur Decke emporschweben. Rosa Diamond lag ruhig da, mit geschlossenen Augen, die Arme auf der Patchworkdecke. Ihr Aussehen: normal. Gibril begriff, dass es nichts mehr gab, was ihn davon abhalten konnte, zur Tür hinauszugehen.
    Vorsichtig stieg er die Treppe hinunter, noch immer etwas wacklig auf den Beinen; fand den schweren Gabardinemantel, der einst Henry Diamond gehört hatte, und den grauen Filzhut, in dem Don Enriques Name von seiner Frau eigenhändig eingestickt worden war, und ging, ohne zurückzublicken. In dem Augenblick, als er vor die Tür trat, ergriff eine Windbö seinen Hut und ließ ihn über den Strand hüpfen. Gibril jagte ihn, erwischte ihn, setzte ihn wieder auf, und zog ihn bis zu den Ohren. London Sharif, ich komme. Er hatte die Stadt in der Tasche: Geographers London mit Eselsohren, die ganze Metropole, von A bis Z.
    Was soll ich tun? überlegte er. Anrufen oder nicht anrufen?
    Nein, einfach auftauchen, klingeln und sagen: Baby, dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, vom Meeresgrund direkt in dein Bett, es braucht schon mehr als einen Flugzeugabsturz, um mich von dir fernzuhalten. Okay, vielleicht nicht genauso, aber in diesem Sinne. Ja. Überraschung ist die beste Methode.
    Allie Bibi, hallo!
    Dann hörte er das Singen. Es kam aus dem alten Bootshaus mit dem aufgemalten einäugigen Piraten, und das Lied war fremdländisch, aber vertraut: ein Lied, das Rosa Diamond oft gesummt hatte, und auch die Stimme war vertraut, wenn gleich ein bisschen anders, weniger zittrig; jünger. Die Tür des Bootshauses war unerklärlicherweise unverschlossen und klapperte im Wind. Er ging dem Lied entgegen.
    »Ziehen Sie Ihren Mantel aus«, sagte sie. Sie war gekleidet wie an jenem Tag auf der weißen Insel: schwarzer Rock und Stiefel, weiße Seidenbluse, kein Hut. Er breitete den Mantel auf dem Boden des Bootshauses aus, und das scharlachrote Futter leuchtete auf dem kleinen, vom Mond beschienenen Fleckchen.
    Sie legte sich mitten in das bunte Durcheinander eines englischen Lebens aus Kricket-Torstäben, einem vergilbten Lampenschirm, angeschlagenen Vasen, einem Klapptisch, Schrankkoffern, und streckte einen Arm nach ihm aus. Er legte sich an ihre Seite.
    »Wie kannst du mich mögen?« flüsterte sie. »Ich bin so viel älter als du.«

3

    Als sie ihm in dem fensterlosen Polizeibus die Pyjamahosen runterzogen und er die dichten, krausen Haare sah, die seine Oberschenkel bedeckten, brach Saladin Chamcha zum zweiten Mal in dieser Nacht zusammen; diesmal jedoch begann er, hysterisch zu kichern, vielleicht angesteckt von der nach wie vor ausgelassenen Stimmung der Männer, d ie ihn festgenommen hatten. Die drei Beamten von der Einwanderungsbehörde waren besonders guter Laune, und einer von ihnen - der glotzäugige Bursche, der, wie sich herausstellte, Stein hieß - hatte Saladin »die Hosen runtergelassen« mit dem fröhlichen Ausruf: »Vorhang auf! Jetzt wollen wir doch mal sehen, woraus du gemacht bist!« Dem protestierenden Chamcha wurden die roten und weißen Streifen vom Leib gerissen, während er auf dem Boden des Wagens lag, seine Arme von je zwei Polizisten festgehalten, der Stiefel eines fünften Ordnungshüters auf seiner Brust, und seine Proteste in der allgemeinen und lautstarken Heiterkeit untergingen. Seine Hörner stießen dauernd irgendwo an: an die Blechwände, den nackten Boden oder das Schienbein eines Polizisten - letzteres zog ein paar kräftige

Weitere Kostenlose Bücher