Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
in den Körper?
Sie sah von ihrer Handarbeit auf, ließ Aminats Kleid fallen, stand auf, ging auf mich zu und fiel mir ohne Vorwarnung um den Hals. Ich klopfte auf ihren knochigen Rücken. Ich umarmte sie nicht sehr gern, aber es war meine Pflicht.
»Wo ist Aminat?« fragte ich.
Sie sah mich an.
»Aminat«, wiederholte ich.
»Aminat?«
»Aminat. Das Mädchen, Aminat. Meine Enkelin, deine Tochter.«
Sulfia sah mich schweigend an.
»AMINAT!« brüllte ich.
Die nächste Stunde rannte ich durch das Haus. Ich hatte aus Sulfia die Auskunft herausgeschüttelt, dass Aminat heute Mittag noch da gewesen war. Was danach passiert war, wusste sie nicht mehr. Ich klingelte bei den Nachbarn.
Ich hörte mir aus einem knappen Dutzend Kehlen auf vier Stockwerken an, dass niemand Aminat heute gesehen hatte, dass es aber zur Abwechslung ganz schön wäre, wenn sie nicht so laut trampeln und schreien würde. Die Wände waren dünn, die Böden auch. Ich versprach, Aminat zu bändigen. Dreimal wurde ich gebeten, darauf zu achten, dass Aminat keine streunenden Katzen mit ihrer frisch geworfenen Brut hinter dem Müllabwurf ansiedelte. Zweimal hatte sie das bereits gemacht. Ein Nachbar hatte die Tiere entdeckt und die kleinen Kätzchen in den Müllabwurf gesteckt und ihre Mutter weggejagt. Ich versprach jedem alles und rannte weiter, bis Aminats Stimme mich von oben rief.
Ich kehrte zur Wohnung zurück, noch schwer atmend und sauer. Aminat stand in der Tür und lächelte, sie hatte eine Zahnlücke, abstehendes Haar, das bereits etwas nachgewachsen war, und schmutzige Fingernägel. Sie trug ein Nachthemd, aus dem sie längst herausgewachsen war, und eine Strumpfhose mit Loch am Knie. Sie war schon wieder ein vernachlässigtes Kind. Ich sah sie an und seufzte. Meine Männer mussten noch ein bisschen auf mich warten, bis ich dieses Kind großgezogen hatte. Ohne mich ging gar nichts. Ich musste jede Sekunde in dieses Kind investieren, damit es nicht in der Gosse landete.
»Wo warst du?« fragte ich, meine Stimme zitterte vor Wut.
»Im Schrank«, sagte Aminat. »Ich versteck mich oft im Schrank, hihi. Und Mama sucht mich dann.«
Ich holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Schlampe«, sagte ich. »Schlimmes, schlimmes Kind. Zeig mir deine Hefte.«
Aminat brachte mir schweigend ihre Hefte und ihr Journal. Ich blätterte alles durch, ich las jede Seite. Und ich staunte. Die Hefte waren sauber. Keine Flecken, keine schiefen Striche, gestochen scharfe, ordentliche Schrift, gerade Linien.
Ich las in ihrem Journal. Die Noten waren tadellos, die Hausaufgaben säuberlich notiert, nur hier und da blinkte eine Beschwerde in roter Schrift: »War frech zum Lehrer«, »Verdarb anderen Kindern den Appetit aufs Schulessen«.
Ich schlug das Journal zu. » Das hast du gut gemacht«, sagte ich.
Ich holte meine Geldbörse heraus, fand einen Rubelschein und gab ihn ihr. Es war viel Geld. Sie traute sich nicht, es zu nehmen. Es hatte ihr noch nie im Leben jemand Geld gegeben, offenbar ein Fehler.
»Für dich«, sagte ich. »Das hast du dir verdient.«
Ich hatte eine Idee. Ich rief Aminat zu mir, gab ihr einen Stift und ein Blatt Papier und fragte:
»Was wünschst du dir am meisten auf der Welt?«
»Einen Papa und eine Katze«, sagte Aminat ohne nachzudenken.
»Dann pass mal auf«, sagte ich. »Wenn du erstens darauf achtest, dass du nicht mehr so schlampig aussiehst, zweitens gut in der Schule bleibst, drittens jeden Abend den Abwasch machst im Wechsel mit deiner Mutter, viertens jeden Samstag staubsaugst, fünftens die Kleider so vorbereitest, dass deine Mutter sie gut waschen kann, sechstens sie immer dran erinnerst, wenn Lebensmittel einzukaufen sind … Hast du dir alles notiert? Gut. Wenn du das alles drei Monate lang durchhältst, dann darfst du eine Katze haben.«
Aminat hörte mir zu, ohne zu blinzeln. Den Stift hielt sie in der Faust fest.
»Na los. Aufschreiben. Soll ich es noch mal sagen?«
Aminat kratzte sich mit dem Stift am Hals und begann zu schreiben. In wenigen Minuten erstellte sie eine durchnummerierte Liste. Die letzte Zeile lautete: »Wenn ich das mache, kriege ich eine KATZE.«
Ich nahm den Stift und setzte meine Unterschrift drunter.
Mein Privatleben hatte ich auf Eis gelegt. Als Frau hat man wichtigere Dinge im Kopf. Nach der Arbeit fuhr ich zu Sulfia. Ich öffnete die Tür mit meinem eigenen Schlüssel, ging durch die Räume und schaute in die Ecken. Es war, als hätte ein Junggeselle
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