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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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sich die halbe Nacht lang mit Sulfias Taschentuch die Tränen trocknete, wie Versprechen ausgetauscht wurden, sich niemals aus den Augen zu verlieren. Wahrscheinlich war ich die Einzige, die schon in diesem Moment wusste, dass solche Versprechen niemals gehalten werden.
    Kurz nach Mitternacht stand ich auf. Die müde Aminat hatte sich auf einer Matratze im Kinderzimmer zusammengerollt. Sie hielt die kleine schlafende Lena in ihren Armen. Ich beugte mich hinunter und küsste Aminat auf die verschwitzte Stirn.
    Keiner merkte, wie ich die Wohnung verließ. Ich hielt auf der Straße ein Auto an und ließ mich heimbringen.Ich gab dem Fahrer einen großen Geldschein, und er hielt mich offensichtlich für betrunken. Ich bat ihn, immer nett zu anderen Menschen zu sein. Jetzt hielt er mich für verrückt.
    Zu Hause nahm ich die Tablettenschachteln und eine Flasche Milch und ging in mein Zimmer. Ich zog mich aus, warf meinen Bademantel über und ging ins Bad. Ich schminkte mich ab und wusch mich gründlich. Danach trocknete ich mir das Haar mit dem Föhn und brachte es mit Lockenstab und Bürste in Form, schlüpfte in ein frisches Spitzennachthemd und schminkte mich noch mal neu. Ich hätte es für meine eigene Hochzeit nicht gründlicher tun können. Aber eine Heirat ließ sich wiederholen, der Tod meistens nicht.
    Was ich im Spiegel sah, gefiel mir. Ich hatte die Wangen blass gepudert und sah mit meinen schwarzen Haaren und roten Lippen wunderschön und ewig jung aus. Schade nur, dass sicher niemand auf die Idee kommen würde, mich im Sarg zu fotografieren.
    Ich setzte mich aufs Bett und begann, die Schachteln zu öffnen und die Tabletten aus den Blisterpackungen rauszudrücken. Sie fielen auf die Bettdecke, ich schaufelte sie mit den Händen zu einem Häufchen. Ich warf zehn nacheinander in meinen Mund, zerdrückte sie mit den Zähnen und trank ein halbes Glas Milch hinterher. Noch spürte ich nichts außer einem starken Herzklopfen.
    Mir fiel ein, dass ich keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Aber es war auch nicht nötig. Man würde mich erst finden, wenn Aminat und Sulfia bereits in Tel Aviv angekommen waren. Dann musste Sulfia möglicherweise noch mal zurückfliegen und sich um die Beerdigung kümmern. Tja, da musste sie eben durch.
    Jetzt fühlte ich mich seltsam. Ich konnte nicht verstehen, ob ich nun Magenschmerzen hatte oder ob mir schwindlig war. Ich hörte den rasenden Puls in meinen Schläfen und hielt den Kopf mit den Händen zusammen. Gleichzeitig spürte ich, dass ich kurz davor war, mich zu übergeben. Das durfte jetzt nicht sein. Ich schaufelte die Tabletten in mein leeres Glas, goss ein bisschen Milch dazu und verrührte alles mit dem Löffel. Die Tabletten lösten sich schlecht auf, ich drückte und verrieb sie und spürte mit Entsetzen, dass meine Finger mir nicht mehr gehorchten. Wahrscheinlich war ich schon halb tot. Ich kippte den Tablettenbrei in meinen Mund, füllte das Glas mit Milch auf, trank alles aus und legte mich schnell unter die Bettdecke. Ich faltete meine Hände und schloss die Augen. Mein vorletzter Gedanke galt Aminat und mein allerletzter Gott.

[Menü]
    Wieder unter uns
    Als ich meine schmerzenden Augen wieder öffnete, sah ich Sulfia, die mir mit abgewandtem Gesicht den Blutdruck maß. Ich schloss die Augen erst mal wieder und dachte nach.
    Ich erinnerte mich an das Abschiedsfest, an Aminats verschwitzte Stirn, an ihre an der Matratze platt gedrückte Wange und ihren Arm, der im Schlaf die kleine Lena hielt. Das war mein Unglück gewesen: Ich war dabei, Aminat an das Land der Juden zu verlieren, nur weil Sulfia einen Rosenbaum geheiratet hatte. Draußen war es hell, und Sulfia, die längst in Moskau in eine Maschine nach Tel Aviv umgestiegen sein sollte, stand leibhaftig vor mir und packte ihr Blutdruckmessgerät wieder ein. Ich musste irgendetwas verpasst haben.
    Sulfia stand auf und ging zum Fenster. Ich öffnete die Augen ein wenig und sah auf ihren mageren Rücken. Auf der Fensterbank standen zwei große Taschen, und in einer davon wühlte Sulfia gerade.
    Ich betastete meinen Körper unter der Decke. Ich hatte ein anderes Nachthemd an. Man hatte mich umgezogen. Ich griff mir ins Haar, um die Beschaffenheit meiner Frisur rauszufinden. Ich befeuchtete meinen Finger mit Spucke und berührte meine Wimpern. Man hatte mich umgezogen und mir das Gesicht gewaschen.
    Ich merkte nicht rechtzeitig, dass Sulfia sich wieder umgedreht hatte und mich ansah. Es war zu spät, um die Augen

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