Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Hausaufgaben. War sie damit fertig, legte sie sich aufs Bett, mit dem Gesicht zur Wand.
»Was hat sie für ein Problem?« fragte ich Sulfia. »Versprich ihr, dass wir bald Urlaub am Meer machen. Rosenbaum soll dir Geld schicken, er ist jetzt sicher reich.«
Sulfia sah mich an und sagte: »Von welchem Meer redest du? Sie vermisst ihre Schwester.«
Ja, jetzt sah ich das auch. Aminat hatte Sehnsucht nach diesem pausbäckigen Kind mit den abstehenden Fusselhaaren. Sie hatte Fotos in ihren Heften und Büchern versteckt: Lena auf einem Schaukelpferd, Lena mit einem Apfel, Lena auf dem Topf. Sie erwähnte ihre Schwester nie, aber die Fotos fielen überall heraus und wurden von Aminat schnell wieder eingesammelt und eingesteckt.
Auch Sulfia erwähnte Lena nie. Wenn sie abends in ihrem und Aminats Zimmer verschwand, hörte ich nichts als Stille. Sie unterhielten sich nicht miteinander. Ich hatte das Gefühl, dass sie über das Gleiche schwiegen.
Und währenddessen klingelte bei uns das Telefon. Aminat rannte in den Flur und griff sich den Hörer. Rosenbaum rief in der ersten Zeit oft an. Er berichtete, dass sie gut angekommen waren, wie heiß es war, dass sie zu viert in einer leeren Wohnung lebten und alte Möbel von den Nachbarn bekommen hatten. Wie sie zu Sprachkursen gingen, wie er in einem Obstladen frühmorgens die Sharonfrüchte sortierte, weil keine andere Arbeit für ihn da war, wie die alte Rosenbaum kränkelte und ihr Mann im Gegenzug aufblühte.
»Gib mir doch mal Lena«, bat Aminat, und dann hörte ich sie »Lena, hier ist deine große Schwester Aminat!« rufen und danach in den Hörer Sachen flüstern, die niemand außer Lena hören sollte. »Und jetzt sag du mir was«, verlangte Aminat und wurde für einige Zeit still. Dabei konnte Lena noch gar nicht sprechen, sie war mit zwei Jahren sehr spät dran. Wahrscheinlich nahm Rosenbaum Lena ganz schnell den Hörer ab, denn die Anrufe waren teuer. Aminat ging in ihr Zimmer und schloss die Tür. Die Stille im Raum drückte gegen die Wände.
Es kam ein mehrere Seiten langer Brief von Rosenbaum, der laut Poststempel zwei Monate unterwegs gewesen war. Auf den Briefmarken waren verdrehte Buchstaben, und die Adresse klang nach einer ganz anderen Welt. Im Umschlag waren Fotos: Lena am Strand, vor einer Steinmauer und mit einem Eis.
»Wie groß sie geworden ist!« sagte Aminat, obwohl Lena genauso aussah wie vor ihrer Abreise. Sie trug merkwürdige Sachen. Ein T-Shirt mit einer Zeichentrickmaus drauf, einen Sonnenhut und nasse Shorts. Im Hintergrund war ein leerer Sandstrand.
Aminat saß stundenlang vor diesen Bildern. Anders als Sulfia, die nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen und sich wieder abgewandt hatte.
»Guck mal, Mama«, sagte Aminat.
»Ja, ja, Liebling«, sagte Sulfia.
»Du musst dir das anschauen!«
»Hab ich schon, Liebling.«
Sulfia las auch die langen Briefe Rosenbaums nicht. Aminat drängte darauf, den Inhalt zu erfahren, konnte aber die fahrige Schrift nicht entziffern. Also las ich ihr die Briefe vor. Hauptsächlich zählte Rosenbraum die einzelnen Waren in den Geschäften auf und die Preise dazu, schrieb aber auch, dass Lenas erste Worte in Iwrit waren und dass man es nicht abwarten konnte, den fehlenden Teil der Familie wiederzusehen, damit man wieder komplett war. An dieser Stelle stockte ich und blickte über den Briefrand zu Aminat, die mich mit leicht zusammengekniffenen Augen ansah.
Ich faltete den Brief zusammen. Aminat riss ihn mir aus den Händen und ging in ihr Zimmer.
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Sulfia, du brauchst einen Ausländer
Die Zeiten wurden schlechter.
Sulfia bewegte sich wie ein Schatten durch den Tag, und Aminat begann, den Gesichtsausdruck ihrer Mutter zu übernehmen: herunterhängende Mundwinkel und ein Blick, der ins Nirgendwo gerichtet war. Ich merkte auch, dass die beiden keinen Respekt mehr vor mir hatten. Sulfia und Aminat sahen höflich in meine Richtung, wenn ich meine Ansichten zum Wetter oder zum abstürzenden Rubelkurs kundtat, aber ihre Gesichter drückten die Sehnsucht aus, ich möge endlich aufhören zu sprechen.
Der Wind hatte sich gedreht, draußen auch. Die Regale in den Lebensmittelgeschäften leerten sich. Wir mussten uns anstrengen, um satt zu werden. Bevor ich einkaufen ging, brachte ich erst mal das Leergut zurück, die gründlich gespülten Milch- und Kefirflaschen, und zählte genau die Münzen ab, die ich dafür bekam. Vom Pfandgeld kaufte ich Brot und Kartoffeln.
Zum Glück hatte ich meinen Garten auf
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