Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
wieder zu schließen. Ich sah ihr stumm entgegen.
»Wie fühlst du dich?« fragte sie, ohne zu lächeln.
»Was machst du hier?« fragte ich. Das Sprechen fiel mir schwer, mein Hals war wund und trocken.
Sulfia antwortete nicht.
»Wo ist Aminat?« krächzte ich.
Sulfia ging hinaus und kam mit einem halb vollen Wasserglas zurück. Sie griff mit der Hand unter meinen Rücken und richtete mich auf. Sie hielt das Glas an meine Lippen. Ich trank einen Schluck Wasser. Die kalte Feuchtigkeit irritierte meine Kehle.
»Wo ist Aminat?«
Sulfia stellte das Glas auf die Fensterbank.
»In der Schule.«
»Und die Rosenbaums?«
Sulfia drehte sich mit dem Gesicht zum Fenster und mit dem Rücken zu mir.
»In Tel Aviv.«
»Und du? Wann fliegst du?«
»Ich fliege nicht.«
»Und Lena?«
»Was ist mit Lena?«
»Wo ist Lena?«
Sulfia drehte sich zu mir, ihre Augen waren matt.
»Lena ist in Tel Aviv. Schlaf noch ein bisschen, Mutter.«
Wir waren wieder unter uns: Aminat, Sulfia und ich, ohne Männer, ohne neue Kinder, in zwei großen Wohnungen, eine davon nicht mehr möbliert. Deswegen zogen Aminat und Sulfia zu mir, in das Zimmer, das sie schon kurz nach Aminats Geburt zusammen bewohnt hatten.
»Sie hat Angst, dass du dir noch was antust«, sagte Klavdia zu mir in der Küche. Das war aber Quatsch: Wieso sollte ich mir etwas antun, jetzt, wo meine Liebe wieder bei mir war?
Sulfia sprach niemals über diese Nacht, in der sie beschlossen hatte, nicht ins Flugzeug zu steigen. Sie muss sich innerhalb weniger Stunden umentschieden haben. Ich fand nie heraus, was sie dazu getrieben hatte, mir nachzufahren, und was danach passiert war. Sie hatte mich ohne Hilfe eines Notarztes gerettet, denn sonst wäre ich nicht zu Hause, sondern als Selbstmörderin in der geschlossenen Psychiatrie aufgewacht. Ich sah Klavdia an, dass sie mehr wusste, als sie sagte, und ich vermutete, dass irgendwas mit ihren Tabletten nicht gestimmt hatte – sie waren zu billig gewesen und hatten offenbar zu wenig Wirkstoff.
Meine Kehle brannte noch lange, und mein Magen war wund und zerschunden, als hätte ich Steine ausgewürgt.Ich beschwerte mich nicht. Ich lag im Bett, die Hände über der Decke gefaltet, und Sulfia war bei mir. Manchmal hatte ich das Gefühl, die Decke wurde zu warm. Ich brauchte nichts zu sagen. Sulfia erkannte es an meinem Gesichtsausdruck. Sie schüttelte die Decke aus und drehte sie um. Ich dankte ihr nicht dafür. Sie war meine Tochter, ich hatte mich mein Leben lang um sie gekümmert. Jetzt durfte sie auch mal etwas für mich tun.
Während Sulfia meine Decke ausschüttelte, mein Gesicht mit einem nassen Lappen abwischte, mir zu trinken gab, irgendwelche Spritzen setzte und meinen Blutdruck maß, tobte Aminat im Nebenzimmer. Ich hörte sie hinter der Wand springen und stampfen, sich gegen die Wände stürzen, mit Gegenständen herumwerfen. Sie war wie von Sinnen. Manchmal schrie sie, dann ging Sulfia hinaus und betrat den Nebenraum. Ich hörte ihr trockenes Flüstern. Und Aminat wurde still.
Während ich krank war, betrat Aminat kein einziges Mal mein Zimmer. Erst war ich froh darüber. Ich war zu schwach, ich hätte nicht gewusst, was ich ihr hätte sagen sollen. Dann begann ich sie zu vermissen. Ich fragte Sulfia nach ihr. Sulfia antwortete, ich sei noch zu schwach und Aminat zu ungezogen. Ich verstand, was sie meinte. Aminat würde sich mir gegenüber nicht benehmen, sie würde schreien und toben und mir Sachen vorwerfen, die sie sicher irgendwann nach meinem Tod, der sich ja vorerst verschoben hatte, bitter bereuen würde.
Wäre ich nicht rechtzeitig gefunden worden, hätte sie in Tel Aviv ein paar Tränen vergossen und in den Nächten nach mir gerufen, bis die Erinnerung an mich verblasst wäre. Ich wäre zu einem Foto auf ihrer Tapete geworden.
Jetzt kam alles ganz anders. Im Toten Meer badeten nur die Rosenbaums.
Sulfia arbeitete weiter auf ihrer chirurgischen Station, Aminat ging wieder in die Schule, und ich hatte mich so weit erholt, dass ich ein paar Spaziergänge um den Block machte, wobei ich oft anhielt, um zu verschnaufen. Sulfia verwandelte sich innerhalb weniger Tage in eine alte Frau. Das sollte kein Dauerzustand werden, dachte ich, mit einer solchen verbitterten Miene würde sie nie wieder einen Mann abkriegen.
Auch Aminat hatte sich verändert. Sie hatte aufgehört zu toben. Sie wurde ein merkwürdig stilles Kind, sprach nie ein Wort zu viel, kam von der Schule sofort nach Hause und machte ihre
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