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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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dem Land, der uns in dieser Zeit ernährte. Meine Gurken und Tomaten gediehen im Gewächshaus. Die Fahrt mit dem Bus dorthin dauerte fast zwei Stunden. Ich bestellte lieber Kalganow, damit er uns mit dem Auto zum Garten fuhr und vor allem wieder nach Hause, im Kofferraum die Kisten mit Gemüse und die Körbe mit Obst. Ich nahm Aminat mit, und sie lief schweigend zwischen den Beeten herum und pflückte büschelweise Schnittlauch und stopfte ihn sich in den Mund. Sie brauchte Vitamine.
    Wir ließen nichts verfallen. Stundenlang stand Sulfia auf einer Leiter, einen Eimer an einer Kordel um den Hals gehängt, und pflückte Sanddornbeeren, aus denen wir Marmelade kochten. Es war eine elende Arbeit, und ich war froh, dass Sulfia sich nicht beschwerte, auch wenn die stacheligen Zweige ihre Hände zerkratzten und der Saft der platzenden Beeren in den Wunden brannte. Nächtelang stand ich in der Küche, sterilisierte die Einmachgläser, füllte sie mit Tomaten, Paprika, Gurken und Pilzen, mit Marmeladen und Kompott, und träumte gelegentlich von einer Gefriertruhe.
    Politik interessierte mich nicht. Ich hörte auch auf, Zeitungen zu lesen, weil dort Dinge drinstanden, die mir dieLaune noch mehr verdarben. Ich brauchte keine schlechten Nachrichten aus der Zeitung, ich konnte alles mit eigenen Augen sehen. Während die Wirtschaft draußen zusammenbrach, sorgte ich dafür, dass meine Familie keinen Hunger litt. Die Paletten der Einmachgläser, ordentlich im Wohnzimmer gestapelt und mit alten Wolldecken zugedeckt, führten mir jeden Tag aufs Neue vor, dass ohne mich gar nichts ging. Aber es wurde trotzdem immer schwerer. Zucker zu kaufen war zum Beispiel ein Glücksfall, und ich brauchte ihn für meine Marmeladen und für den Teepilz.
    Wir hatten uns längst an Lebensmittelgutscheine gewöhnt, das war überhaupt nichts Neues, dass im Treppenhaus jemand von der Hausverwaltung saß und die Bewohner Schlange standen, um die Coupons abzuholen, die zum Erwerb einer bestimmten Menge Wurst oder Zucker berechtigten. Das Schwierige war, die Coupons auch einzulösen. Sobald ich hörte, dass irgendwo Zucker verkauft wurde, ließ ich meine Arbeit sofort liegen und fuhr dorthin. Meine, Sulfias und Aminats Coupons hatte ich immer bei mir, nur für den Fall. Wurstgutscheine tauschte ich bei meinen Kolleginnen gegen Zucker ein. Ich hatte beschlossen, dass die Vitamine in meinen Marmeladen besser waren als die Erzeugnisse aus Knorpel, Haut und Papier, die man Wurst nannte und auch nur mit sehr viel Glück ergattern konnte.
    Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich den Teepilz mit seinem enormen Zuckerhunger nicht mehr ernähren konnte. Ich nahm ihn in meinen Garten mit und warf ihn auf den Kompost, obwohl es mir in der Seele wehtat.
    Wenn ich in dieser Zeit etwas besonders gern gehabt hätte, dann eine Kuh. Milch war nämlich eine Seltenheit geworden.In der Nähe unseres Haus wurde ein Pavillon mit Milchautomaten aufgestellt, die Menschen brachten zum Abfüllen Milchkannen und leere Dreilitergläser mit. Vor dem Pavillon bildeten sich Warteschlangen, durch die ein Raunen ging, sobald der Automat leer gemolken war. Meist hing allerdings der Zettel »Heute keine Milch « darauf. Ich fragte mich, wieso die Milch auf einmal so rar wurde. Wo waren all die Kuhherden geblieben, waren die Weiden unseres endlosen Landes jetzt alle entvölkert?
    Um die Eier gab es das gleiche Geheimnis. Es war lange her, dass ich das letzte Mal einfach so ein Ei gegessen hatte. In unserem Hochhaus lebte eine Frau, die in der Küche ein lebendes Huhn hielt. Ab und zu trug sie es hinaus und ließ es auf den Beeten herumpicken. Ich war hemmungslos neidisch.
    Aminats Schulgebäude war zu klein für die vielen Schüler, und es gab zu wenige Lehrer. Ihre Klasse hatte jetzt die Nachmittagsschicht: Unterricht ab zwei Uhr. Sie kam nach Hause, wenn es bereits dunkel war. Vormittags hing sie allein herum. Wenn ich früh genug von der Arbeit kam, holte ich Aminat am Abend von der Schule ab. In diesen Jahren verschwanden viele Mädchen am helllichten Tage. Später wurden sie vergewaltigt und ermordet in irgendwelchen Kellern gefunden.
    Die Briefe aus Tel Aviv wurden kürzer und seltener. Zuletzt kamen Postkarten zum Geburtstag. »Wir wünschen dir alle alles Gute, Optimismus und Sonnenschein«, stand in leichten Variationen auf jeder Karte. Lena bekam auf den Fotos lange Haare. Internationale Anrufe, die von einem besonderen Klingelton angekündigt wurden, wurden ganz selten und

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