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Die Schandmaske

Die Schandmaske

Titel: Die Schandmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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geistiger Verwirrung.« Er sah Sarah an. »War Mrs. Gillespie depressiv?«
    »Wenn sie es war, hat sie es mich nie merken lassen.«
    Der Polizeibeamte, der sich in der Gegenwart des Todes entschieden unbehaglicher f ühlte als die beiden Ärzte, führte Sarah in den Flur hinaus. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Dr. Blakeney. Es tut mir leid, dass wir Ihnen das zumuten mussten, aber als ihre Hausärztin haben Sie sie wahrscheinlich besser gekannt als die meisten.« Er seufzte. »Das sind immer die schlimmsten Fälle. Alte Menschen, die allein leben. Ausgestoßene der Gesellschaft. Manchmal vergehen Wochen, ehe sie gefunden werden.« Er verzog angeekelt den Mund. »Sehr unschön. Wir können von Glück sagen, denke ich, dass sie so bald gefunden wurde. Keine vierzig Stunden, meint Dr. Cameron. Samstag um Mitternacht nach seiner Schätzung.«
    Sarah lehnte sich an die Wand und blickte über den Flur zu Mathildas Schlafzimmer, durch dessen offene Tür das Eichenbett mit den hochgetürmten Kissen zu sehen war. Da war noch ein merkwürdiger Hauch von Besitzerschaft, so als hätten sich ihre Dinge den Geist bewahrt, der ihrem Körper verlorengegangen war. »Sie war gar nicht so alt«, protestierte sie milde. »Fünfundsechzig. Heutzutage ist das nichts.«
    »Sie sieht älter aus«, erwiderte er sachlich, »aber das ist wohl natürlich bei dem totalen Blutverlust.« Er warf einen Blick in sein Notizheft. »Eine Tochter, sagen Sie, die in London lebt, und eine Enkelin im Internat.“
    »Das müssten doch Mr. und Mrs. Spede wissen.« Sie hatte sie bei ihrer Ankunft flüchtig in der Bibliothek gesehen. Mit grauen Gesichtern, die seltsam leer waren vom Schock, hatten sie sich an den Händen gehalten wie verängstigte Kinder. »Sie kommen seit Jahren zweimal die Woche. Er kümmert sich um den Garten, und sie macht sauber. Sie müssen mehr von ihr wissen als jeder andere.«
    Er nickte. »Leider war vor lauter Hysterie bisher nichts aus ihnen herauszubekommen. Wir werden uns natürlich auch im Dorf umhören.« Er sah zum Schlafzimmer hinüber. »Auf ihrem Nachttisch steht eine leere Flasche, die Barbiturate enthalten hat, und daneben ein Glas, in dem noch ein Rest Whisky ist. Sieht aus, als hätte sie sich erst wappnen wollen. Whisky für den Mut. Dann die Schlaftabletten, dann in der Wanne das Messer. Sagen Sie immer noch, Sie hätten bei ihr nicht mit einem Selbstmord gerechnet?«
    »Gott, ich weiß es nicht.« Nervös fuhr sich Sarah mit der Hand durch ihr kurzes dunkles Haar. »Ich hätte ihr keine Barbiturate verschrieben, wenn ich gefürchtet hätte, sie könnte sie missbrauchen, aber in diesen Dingen kann man nie ganz sicher sein. Im Übrigen nahm Mathilda sie seit Jahren, sie wurden früher allgemein verschrieben. Doch ja, nach allem, was ich über sie weiß, würde ich einen Selbstmord ausschließen, aber wir hatten eine reine Arzt-Patienten-Beziehung. Die Arthritis hat sie sehr gequält, und es gab Nächte, da konnte sie überhaupt nicht schlafen.« Sie runzelte die Stirn. »Wie dem auch sei, von den Tabletten können nicht mehr viele übrig gewesen sein. Sie hätte diese Woche ein neues Rezept bekommen.«
    »Vielleicht hat sie sie gesammelt«, sagte er ruhig. »Hat sie Ihnen mal ihr Herz ausgeschüttet?«
    »Ich bezweifle, dass sie irgendjemand ihr Herz ausgeschüttet hat. Sie war nicht der Typ. Sie war ein sehr verschlossener Mensch.« Sie zuckte die Achseln. »Und ich kannte sie erst - hm - ein Jahr etwa. Ich wohne in Long Upton, nicht hier in Fontwell, und bin ihr deshalb auch privat nicht begegnet.« Sie schüttelte den Kopf. »Nichts in ihrer Krankengeschichte weist auf Depressivität hin. Allerdings -« Sie brach ab.
    »Allerdings was, Dr. Blakeney?«
    »Wir haben das letztemal, als ich bei ihr war, über Freiheit gesprochen, und sie behauptete, Freiheit sei reine Illusion. In der modernen Gesellschaft gäbe es sie nicht. Sie zitierte mir Rousseau, den berühmten Schlachtruf der Studenten in den Sechzigerjahren. Der Mensch ist frei geboren, und überall ist er in Ketten. Mathilda behauptete, es gäbe nur noch eine Freiheit, und das sei die Freiheit zu wählen, wie und wann man sterben wolle.« Ihr Gesicht war düster. »Aber solche Gespräche hatten wir immer, wenn ich sie besucht habe. Es gab keinen Anlass zu der Vermutung, dies habe eine besondere Bedeutung.“
    »Wann hat das Gespräch stattgefunden?«
    Sarah seufzte tief. »Vor drei Wochen, bei meinem letzten monatlichen Besuch. Und das

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