Die Schandmaske
rechtmäßig zusteht. Nun zu Ruth.« Sie räusperte sich. »Dein Verhalten seit deinem siebzehnten Geburtstag hat mich entsetzt. Ich kann weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung dafür finden. Ich habe dir immer gesagt, dass du nach meinem Tod erben würdest. Ich sprach vom Cedar House, aber du hast, ohne dass ich dir dazu irgendeinen Anlass gegeben hätte, angenommen, auch das Inventar und das Geld würden dir zufallen. Diese Vermutung war falsch. Ich hatte stets die Absicht, die wertvolleren Stücke und das Geld Joanna zu hinterlassen, und das Haus dir. Ich nahm an, Joanna würde London nicht verlassen wollen, und du hättest dann die Wahl gehabt, entweder zu verkaufen oder weiterhin hier zu leben. Aber ich bin sicher, du hättest verkauft, weil das Haus nach Genehmigung der Anlage einen großen Teil seines Charmes verloren hätte. Das, was vom Grundstück geblieben wäre, hätte dir niemals gereicht, denn du bist so habgierig wie deine Mutter. Zum Abschluss kann ich nur sagen, was ich schon Joanna gesagt habe: Ich war dir gegenüber immer sehr großzügig und bin der Meinung, dass ich meine Verpflichtungen dir gegenüber abgegolten habe. Vielleicht ist die Inzucht schuld daran, ich habe jedenfalls erkannt, dass keine von euch beiden eines anständigen oder großzügigen Gedankens fähig ist.« Die Augen hinter den Brillengläsern verengten sich. »Ich hinterlasse daher alles, was ich besitze, Dr. Sarah Blakeney, die, da bin ich ganz sicher, mit diesem unerwarteten Geschenk weise umgehen wird. Soweit ich überhaupt fähig bin, einem Menschen Zuneigung entgegenzubringen, gilt sie ihr.« Sie stieß plötzlich ein leises Lachen aus. »Seien Sie mir nicht böse, Sarah. Ich muss gestorben sein, ohne es mir anders überlegt zu haben, sonst sähen Sie sich jetzt diese Aufnahme nicht an. Behalten Sie mich also um unserer Freundschaft willen im Gedächtnis, nicht um der Last willen, die ich Ihnen aufgebürdet habe. Joanna und Ruth werden Sie hassen, wie sie mich gehasst haben, und werden Sie aller nur erdenklichen Gemeinheiten bezichtigen, wie sie das mit mir getan haben. Aber was geschehn ist, kann man nicht ungeschehn machen , nehmen Sie es darum mit meinem Segen und verwenden Sie es in meinem Andenken für eine lohnende Aufgabe. Leben Sie wohl, meine Liebe.“
»Wenn die Leiden kommen, so kommen sie wie einz'le Späher nicht, nein in Geschwadern.« Ich fürchte, Ruths Verhalten wird zum Zwang, aber ich wage nicht, sie deswegen zur Rede zu stellen. Ich habe Angst vor ihrer Reaktion. Ich würde ihr zutrauen, dass sie gegen eine alte Frau, die sie ärgerlich macht oder frustriert, zur Waffe greift. Ich sehe es in ihrem Blick, ein Wissen, dass ich tot mehr wert bin für sie als lebendig. Es ist schon wahr: »Wer stirbt, zahlt alle Schulden.« Wenn ich wüsste, wohin sie jeden Tag verschwindet, wäre das eine Hilfe, aber sie belügt mich, so wie sie mich in allem belügt. Könnte es Schizophrenie sein? Das richtige Alter dafür hätte sie. Ich hoffe, die Schule wird im nächsten Trimester etwas unternehmen. Ich habe nicht die Kraft für weitere Szenen, und ich werde mir nicht etwas vorwerfen lassen, was nie meine Schuld war. Weiß Gott, in dieser ganzen Geschichte gab es immer nur ein Opfer, und das war die kleine Mathilda Cavendish. Ich wollte, ich könnte mich an sie erinnern, an dieses liebevolle und liebenswerte Kind, doch es ist mir entglitten wie die Erinnerungen an meine Mutter. Zwei Vergessene, ungeliebt, misshandelt, vernachlässigt.
Gott sei bedankt f ür Sarah. Sie überzeugt mich, dass ich ein Mensch bin, an dem man, wie an Shakespeares tragischem alten Mann, »mehr sündigt, als er sündigte«.
5
Paul Duggan schaltete das Fernsehger ät aus und sagte in die Stille: »Diese Videoaufnahme besitzt natürlich keine Rechtskraft, darum sprach ich vorhin von Mrs. Gillespies schriftlichem Testament.« Er griff in sein Aktenköfferchen und entnahm ihm mehrere Bündel Papiere. »Das hier sind nur Fotokopien. Das Original kann jederzeit in unserer Kanzlei in der Hill Street eingesehen werden.« Er reichte jeder der Frauen eine Kopie. »Mrs. Gillespie meinte, Sie würden versuchen, diese Verfügung anzufechten, Mrs. Lascelles. Ich kann Ihnen nur raten, sich mit einem Anwalt zu besprechen, ehe Sie das tun. Was Sie betrifft, Dr. Blakeney« - er wandte sich an Sarah -, »so möchten Mr. Hapgood und ich ein baldiges Gespräch vorschlagen, um Einzelheiten zu klären. Wir können Ihnen nächste Woche drei Vormittage
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