Die Schandmaske
es einen Grund, ihm das gerade an dem Abend zu sagen?«
Sie seufzte. »Ich war deprimiert von der Beerdigung und landete mit meinen Gedanken bei der uralten Frage nach dem Sinn des Lebens. Ich fragte mich, was wohl der Sinn ihres Lebens gewesen sei. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass mein eigenes Leben beinahe ebenso sinnlos ist.« Sie drehte den Kopf und sah ihn an. »Sie finden das wahrscheinlich absurd. Ich bin schließlich Ärztin, und man wählt eine solche Tätigkeit nicht, wenn man sich nicht irgendwie dazu berufen fühlt. Es ist wie mit der Entscheidung, zur Polizei zu gehen. Wir wählen diese Arbeit, weil wir glauben, etwas ändern zu können.« Sie lachte dumpf. »Was für eine arrogante Vorstellung. Wir bilden uns ein zu wissen, was wir tun, und in Wirklichkeit haben wir kaum eine Ahnung. So sehe ich das jedenfalls. Wir Ärzte bemühen uns gewissenhaft, Leben zu retten, weil das Gesetz das von uns verlangt, und wir spucken große Töne über Lebensqualität. Aber was ist denn Lebensqualität? Ich habe Mathildas Schmerzen mit hochentwickelten Drogen in Schach gehalten, aber ihr Leben war schrecklich. Nicht wegen der Schmerzen, sondern weil sie einsam, bitter, zutiefst frustriert und sehr unglücklich war.« Sie zuckte die Achseln. »Während ich an Mathildas Grab stand, habe ich versucht, mein Leben und das meines Mannes einmal ganz ehrlich und ohne Sentimentalität zu betrachten, und dabei ist mir klargeworden, dass man die gleichen Adjektive auf uns anwenden könnte. Wir waren beide einsam, beide bitter, beide frustriert und beide unglücklich. Darum habe ich die Scheidung vorgeschlagen, und er ist gegangen.« Sie lächelte bitter. »So einfach war das.«
Sie tat ihm leid. Nichts war je so einfach, und er hatte den Eindruck, dass sie wie beim Poker zu bluffen versucht und verloren hatte. »Kannte er Mrs. Lascelles schon vor der Beerdigung?«
»Soviel ich weiß, nicht, nein. Ich kannte sie jedenfalls nicht und kann mir daher nicht vorstellen, wo er sie hätte kennenlernen sollen.«
»Aber er kannte Mrs. Gillespie?«
Sie lie ß ihren Blick durch den Garten schweifen, während sie Zeit zu gewinnen versuchte. »Wenn ja, dann nicht durch mich. Er hat nie etwas davon gesagt, dass er sie kenne.«
Sergeant Coopers Interesse an dem abwesenden Jack Blakeney wuchs.
»Warum ist er zu der Beerdigung gegangen?«
»Weil ich ihn darum gebeten hatte.« Sie richtete sich auf. »Ich hasse Beerdigungen, aber ich habe immer das Gefühl, dass ich nicht kneifen darf. Es erscheint mir so herzlos, einem Patienten, kaum dass er tot ist, den Rücken zu kehren. Jack war da immer sehr hilfsbereit.« Sie lachte plötzlich. »Ehrlich gesagt, ich glaube, er gefällt sich in seinem schwarzen Mantel. Er sieht gern diabolisch aus.«
Diabolisch. Cooper dachte über das Wort nach. Duncan Orloff hatte gesagt, Mathilda Gillespie habe Blakeney gemocht. Mrs. Lascelles hatte ihn als einen »merkwürdigen Menschen« beschrieben, »der sehr wenig sprach und dann darum bat, nach Haus gefahren zu werden«. Ruth hatte ihn »einschüchternd« gefunden. Der Pfarrer hatte eine Menge über ihn zu sagen gehabt, als Cooper ihn über die verschiedenen Trauergäste befragt hatte. »Jack Blakeney? Er ist Maler, aber leider nicht sehr erfolgreich, der arme Kerl. Wenn Sarah nicht wäre, würde er wahrscheinlich verhungern. Aber ich muss sagen, mir gefallen seine Arbeiten. Ich würde sofort ein Bild kaufen, wenn er etwas billiger würde, aber er kennt seinen Wert oder behauptet es jedenfalls, und er lehnt es ab, sich unter Preis zu verkaufen. Ob er Mathilda kannte? Ja, er muss sie gekannt haben. Ich habe ihn einmal mit seinem Skizzenblock unter dem Arm aus ihrem Haus kommen sehen. Sie wäre für einen Maler seiner Art genau das richtige Sujet gewesen. Er hätte ihr nicht widerstehen können.«
Cooper packte den Stier bei den H örnern. »Pfarrer Matthews hat mir erzählt, dass Ihr Mann Mrs. Gillespie porträtiert hat. Da muss er sie doch recht gut gekannt haben.« Er zündete sich eine frische Zigarette an und beobachtete Sarah durch die Rauchwolken.
Sie schwieg lange, den Blick auf eine ferne Wiese gerichtet, auf der K ühe weideten. »Am liebsten würde ich jetzt sagen, dass ich ohne meinen Anwalt keine weiteren Fragen mehr beantworte«, sagte sie schließlich, »aber ich habe das unangenehme Gefühl, dass Sie das verdächtig finden würden.«
Als er darauf nichts erwiderte, sah sie ihn an. In dem sympathischen Gesicht war keine Spur von Mitgef
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