Die Schandmaske
unterdrückte seinen eigenen Schrei seit Jahren, den Schrei eines Menschen, der im harten Bemühen um Rechtschaffenheit und Pflichtbewusstsein gefangen war. Warum konnte Jack Blakeney nicht auch so sein?
Er r äusperte sich. »Hat Mrs. Gillespie Ihnen einmal etwas über ihr Testament gesagt, Sir?«
Jack, der Sarah aufmerksam beobachtet hatte, wandte sich dem Polizeibeamten zu. »Nicht direkt. Sie hat mich einmal gefragt, was ich tun würde, wenn ich ihr Geld hätte.«
»Und was haben Sie gesagt?“
»Dass ich es ausgeben würde.«
»Ihre Frau hat mir erzählt, dass Sie den Materialismus verachten.«
»Ganz recht, darum würde ich es ausgeben, um meinen geistigen Horizont zu erweitern.«
»Wie denn?«
»Ich würde alles für Drogen, Sex und Alkohol verpulvern.«
»Klingt mir aber sehr materialistisch, Sir. Den Sinnen zu frönen, hat nichts Geistiges an sich.«
»Das kommt darauf an, wem man folgt. Wenn man Stoiker ist wie Sarah, erlangt man geistige Entwicklung nur durch Pflichterfüllung und Verantwortungsübernahme. Wenn man Epikureer ist wie ich - wobei ich sagen muss, dass der arme alte Epikur mich wahrscheinlich nicht als Anhänger betrachten würde -, erlangt man sie durch Befriedigung der Begierde.« Er zog amüsiert eine Augenbraue hoch. »Leider werden wir modernen Epikureer schief angesehen. Ein Mensch, der es ablehnt, seine Verantwortung anzuerkennen und es vorzieht, aus dem Quell der Freuden zu schöpfen, hat etwas ungemein Verächtliches.« Er ließ Cooper nicht aus den Augen. »Aber das kommt nur daher, dass die Gesellschaft aus Schafen besteht und Schafe für die Gehirnwäsche der Werbung sehr empfänglich sind. Sie glauben vielleicht nicht gerade, dass das strahlende Weiß der Wäsche einer Frau ein Symbol ihres Erfolgs ist, aber sie glauben fest, dass ihre Küchen ebenso keimfrei, ihr Lächeln ebenso strahlend, ihre Kinder ebenso wohlerzogen, ihre Ehemänner ebenso fleißig und ihre Anständigkeit ebenso offenkundig sein sollten. Bei den Männern ist es das Bier. Da will man ihnen einreden, sie seien echte Männer, aber in Wirklichkeit wird ihnen damit eingeredet, dass sie saubere Pullis tragen, sich regelmäßig rasieren, mindestens drei Freunde haben müssen und sich niemals in der Kneipe einen antrinken und lockere Sprüche machen dürfen.« Sein grimmiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Mein Problem ist, dass ich tausendmal lieber hackevoll bin und eine sechzehnjährige Jungfrau bumse, besonders wenn ich ihr vorher erst ganz langsam die Turnhose runterziehen muss.«
Du lieber Gott, dachte Cooper erschrocken. Kann dieser Mistkerl auch noch Gedanken lesen? Er tat so, als schriebe er etwas in sein Heft. »Haben Sie das alles Mrs. Gillespie genauso drastisch dargelegt oder haben Sie sich bei ihr mit der Bemerkung begnügt, dass Sie ihr Geld ausgeben würden, wenn Sie es hätten?«
Jack sah zu Sarah, doch die war in die Betrachtung von Mathildas Portr ät vertieft und blickte nicht auf. »Sie hatte eine phantastische Haut für ihr Alter. Ich denke, ich habe gesagt, ich wäre lieber hackevoll und würde eine Oma bumsen.«
Cooper, der viel korrekter war, als er sich klarmachte, hob schockiert den Kopf. »Und was hat sie gesagt?«
Jack am üsierte sich. »Sie hat mich gefragt, ob ich sie nackt malen würde. Ich hab ja gesagt, und da hat sie sich ausgezogen. Falls es für Sie von Interesse sein sollte, das einzige, was Mathilda anhatte, als ich meine Skizzen von ihr machte, war die Schandmaske.« Er lächelte, während sein wacher Blick den des Polizeibeamten suchte. »Finden Sie das aufregend, Sergeant?«
»O ja, in der Tat«, gab Cooper ruhig zurück. »Lag sie zufällig auch in der Badewanne?«
»Nein. Sie war quicklebendig und lag in ihrer ganzen Pracht auf dem Bett.« Er stand auf und ging zu einer Kommode in der Ecke. »Und sie sah phantastisch aus.« Aus der untersten Schublade nahm er einen Skizzenblock. »Bitte.« Er warf den Block durch den Raum, Cooper zu Füßen. »Bedienen Sie sich. Lauter Skizzen von Mathilda. Einer Individualistin reinsten Wassers.«
Cooper hob den Block auf und bl ätterte darin. Die Skizzen zeigten in der Tat Mathilda Gillespie, nackt auf ihrem Bett, aber eine ganz andere Mathilda Gillespie als die tragische Tote in der Badewanne oder die verbitterte alte Frau mit dem grausamen Mund aus dem Videofilm. Er legte den Block neben sich auf den Boden. »Haben Sie mit ihr geschlafen, Mr. Blakeney?«
»Nein. Sie hat mich nie dazu
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