Die Schandmaske
Gesicht. »Er hat mir tatsächlich einen Schreibtisch hinterlassen, und er ist auch wirklich schön. Die Leiterin des Pflegeheims sagte mir nach seinem Tod, er habe gewünscht, dass ich ihn bekomme. Ich war sehr gerührt.« Sie zog müde die Augenbrauen hoch. »Stand auch drin, wie ich ihn getötet habe?«
»Sie haben ihn erwürgt. Man hat Sie dabei beobachtet.«
»So könnte man es sehen. Ich habe versucht, ihm seine Zahnprothese aus der Kehle zu holen. Der arme alte Mann hatte sie verschluckt, als er in seinem Sessel eingeschlafen war.« Sie seufzte. »Aber er war schon tot, ehe ich anfing. Ich hatte vor, es mit Mund-zu-Mund-Beatmung zu versuchen, wenn es mir gelingen sollte, seine Atemwege freizumachen. Ja, von Ferne könnte es vielleicht so ausgesehen haben, als hätte ich ihn erwürgt.«
Cooper nickte. Er hatte die Geschichte bereits überprüft. »Wir haben einige Briefe bekommen, und nicht alle befassen sich mit Ihnen.« Er zog einen Umschlag aus seiner Tasche und reichte ihn ihr. »Das hier ist der interessanteste. Mal sehen, was Sie davon halten.«
»Darf ich den Brief anfassen?« fragte sie zweifelnd. »Wegen der Fingerabdrücke, meine ich.«
»Das an sich ist schon interessant. Der Verfasser hatte offensichtlich Handschuhe an.«
Sie nahm den Brief aus dem Umschlag und breitete ihn auf dem Tisch aus. Der Text war in Blockschrift geschrieben.
RUTH LASCELLES WAR AN DEM TAG, AN DEM MRS. GILLESPIE GESTORBEN IST, IM CEDAR HOUSE. SIE HAT EIN PAAR OHRRINGE GESTOHLEN. JOANNA WEISS DAVON. JOANNA LASCELLES IST IN LONDON PROSTITUIERTE. FRAGEN SIE SIE, WOF ÜR SIE IHR GELD AUSGIBT. FRAGEN SIE SIE, WARUM SIE IHRE TOCHTER UMBRINGEN WOLLTE. FRAGEN SIE SIE, WARUM MRS. GILLESPIE SIE FÜR VERRÜCKT GEHALTEN HAT.
Sarah drehte den Umschlag herum. Der Brief war in Learmouth aufgegeben worden. »Sie wissen nicht, wer ihn geschrieben hat?«
»Nein.«
»Das muss doch gelogen sein. Sie haben mir selbst gesagt, dass Ruth an dem Tag im Internat war, unter dem wachsamen Auge der Schulleiterin.«
Er schien am üsiert. »Ich habe Ihnen auch gesagt, dass ich von Alibis nicht allzu viel halte. Wenn die junge Dame heimlich verschwinden wollte, hat sie das sicher geschafft. So wachsam kann eine Schulleiterin gar nicht sein.«
»Aber Southcliffe ist dreißig Meilen von hier«, wandte Sarah ein. »Ohne Auto hätte sie nicht hierherkommen können.«
Er wechselte das Thema. »Wie steht es mit dieser Behauptung über Joan nas Verr ücktheit. Hat Mrs. Gillespie irgendwann mal zu Ihnen gesagt, ihre Tochter sei verrückt?«
Sie überlegte einen Moment. » Verrückt ist ein relativer Begriff. Aus dem Zusammenhang gerissen, sagt es gar nichts.«
Er lie ß sich nicht beirren. »Mrs. Gillespie hat also etwas in dieser Richtung zu Ihnen gesagt?«
Sarah antwortete nicht.
»Nun kommen Sie schon, Dr. Blakeney. Joanna ist nicht Ihre Patientin, Sie begehen also keinen Vertrauensbruch. Und ich kann dazu sagen, dass sie im Moment überhaupt keine Rücksicht auf Sie nimmt. Ihrer Ansicht nach mussten Sie die alte Dame schnellstens töten, bevor diese Zeit hatte, das Testament wieder zu ändern. Das posaunt sie überall herum.«
Sarah drehte ihr Weinglas in den Fingern. »Das einzige, was Mathilda in dieser Hinsicht je gesagt hat, war, dass ihre Tochter sehr labil sei. Sie sagte, es sei nicht Joannas Schuld, sondern die Folge einer Inkompatibilität zwischen Mathildas Genen und denen von Joannas Vater. Ich habe ihr damals erklärt, das sei großer Quatsch, ich wusste ja nicht, dass Joannas Vater Mathildas Onkel war. Ich denke mir, sie machte sich Sorgen wegen rezessiver Erbanlagen, aber wir haben das Thema nicht weiterverfolgt. Ich kann also nichts Sicheres sagen.«
»Mit anderen Worten, Inzucht.«
Sarah zuckte leicht die Achseln. »Vermutlich.«
»Ist Mrs. Lascelles Ihnen sympathisch?«
»Ich kenne sie kaum.«
»Ihr Mann scheint sich recht gut mit ihr zu verstehen.«
»Das war unter der Gürtellinie, Sergeant.«
»Ich verstehe nicht, warum Sie sie verteidigen. Sie versucht doch offensichtlich, Sie fertigzumachen.«
»Ist das nicht verständlich?« Sie stützte ihr Kinn auf ihre offene Hand. »Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn Sie innerhalb weniger Wochen erführen, dass Sie das Produkt einer inzestuösen Beziehung sind, dass Ihr Vater sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hat, dass Ihre Mutter eines gewaltsamen Todes gestorben ist, entweder von eigener oder von fremder Hand, und dass Ihnen auch noch die
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