Die Schandmaske
Leben und Tod gegeben ist? Er konnte nur ehrlich mit ihr sein. »Das weiß ich nicht, aber ich würde sagen, im Moment ist es nur lebendig, weil Sie lebendig sind. Es hat kein eigenes Leben als Individuum.«
»Aber es könnte ein eigenes Leben haben - wenn ich es zuließe.«
»Natürlich. Aber so gesehen hat jedes Ei, das eine Frau produziert und jedes Samenfädchen, das ein Mann produziert, ein Potential zu eigenem Leben, und niemand beschuldigt junge Männer des Mordes, wenn sie ihren Samen hinter dem Fahrradschuppen auf die Erde vergießen. Ich denke, für jeden von uns hat das eigene Leben Priorität vor dem potentiellen Leben, das in uns ist. Ich will keinesfalls behaupten, dass es eine leichte Entscheidung ist, dass es da nur Schwarz oder Weiß gibt, aber ich glaube, dass Sie selbst in diesem Moment wichtiger sind als ein Leben, das nur erwachen kann, wenn Sie bereit sind, daf ür zu bezahlen, in emotionaler, körperlicher, sozialer und finanzieller Hinsicht. Und Sie werden diese Kosten ganz allein tragen, Ruth, denn die Wahrscheinlichkeit, dass Hughes etwas dazu beitragen wird, ist gleich null.«
»Er wird sowieso sagen, dass es nicht von ihm ist.«
Jack nickte. »Ja, manche Männer tun so was leider. Sie haben es leicht. Es ist ja nicht ihr Körper, den es erwischt hat -«
Sie schlug die H ände vor ihr Gesicht. »Sie verstehen nicht.« Sie legte ihre Arme um ihren gesenkten Kopf. Um sich zu schützen? Um sich zu verstecken? »Es kann einer von den anderen gewesen sein. Ich musste - er hat mich gezwungen - o Gott, ich wollte -« Sie fuhr nicht fort, krümmte sich nur zusammen und schluchzte.
Jack f ühlte sich völlig hilflos. Ihre Qual war so heftig, dass sie ihn überschwemmte. Er konnte nur in Gemeinplätzen denken - es gibt Schlimmeres ... auf die Nacht folgt immer der Tag -, doch was halfen Gemeinplätze einem Menschen, der sein Leben in Scherben vor sich liegen sah? Unbeholfen legte er ihr seine Hand auf den Kopf. Es war eine instinktive Geste des Trosts, ein Echo priesterlicher Segnung. »Erzählen Sie mir alles«, sagte er. »Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie Sie glauben.«
Aber es war noch schlimmer. Was sie ihm im Ton tiefsten Entsetzens berichtete, ersch ütterte die Grundfesten seines eigenen Menschseins. Er war so schockiert, dass ihm regelrecht schlecht wurde.
Sarah fand ihn im Garten, als sie um halb vier, nachdem sie Polly Graham von einer gesunden kleinen Tochter entbunden hatte, nach Hause kam. Er hackte hingebungsvoll die Erde zwischen zwei Rosenb üschen auf und streute Dünger um die Wurzeln.
»Wir haben fast Dezember«, sagte sie. »Da ruht doch alles. Du verschwendest deine Zeit.«
»Ich weiß.« Er blickte auf, und sie glaubte Tränenspuren in seinen Augen zu sehen. »Ich musste mich einfach irgendwie körperlich betätigen.«
»Wo ist Ruth?«
»Sie schläft. Sie hatte Kopfschmerzen. Ich hab ihr etwas Codein gegeben und sie ins Bett gepackt.« Mit dem Rücken seiner erdigen Hand strich er sich das Haar aus der Stirn. »Bist du für heute fertig?«
Sie nickte. »Was ist denn passiert?«
Er lehnte sich auf die Hacke und starrte zu den Feldern hinaus. Im langsam schwindenden Licht lag es wie Dunst über dem Land, auf dem Kühe weideten und kahle Bäume ihre Äste in dunklem Filigran zum Himmel hoben. »Das ist das England, für das Männer und Frauen sterben«, sagte er rau.
Mit einem leichten Stirnrunzeln sah sie ihn an.
An seinen Wimpern hingen Tr änen. »Kennst du dieses Gedicht von Rupert Brooke? The Soldier.
If I should die, think only this of me:
That there's some corner of a foreign field
That is forever England. There shall be
In that rich earth a richer dust concealed;
A dust whom England bore, shaped, made aware ... «
Er schwieg. Als er wieder sprach, zitterte seine Stimme. »Es ist schön, nicht, Sarah? England ist doch schön.«
Sie wischte ihm die Tr änen vom Gesicht. »Du weinst«, sagte sie. »Ich habe dich noch nie weinen sehen. Was ist passiert, Jack?«
Er schien sie nicht zu h ören. »Rupert Brooke ist 1915 gefallen. Ein Opfer des Krieges. Er war erst achtundzwanzig, jünger als du und ich, und er hat mit den Millionen anderer, gleich, aus welchem Land, sein Leben für die Kinder anderer Menschen gegeben. Und soll ich dir sagen, was mir das Herz bricht?« Sein düsterer Blick entfernte sich von ihr, um in eine Hölle einzutauchen, die nur er sehen konnte. »Dass ein Mann, der dieses vollkommene Gedicht über sein Heimatland geschrieben
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