Die scharlachrote Spionin
Zeit hatte er nichts anderes im Kopf als einen charmanten Flirt; doch dann gab es plötzlich Momente, in denen sein Charakter eine unerwartete Tiefgründigkeit bewies.
Was steckt wirklich hinter diesem Deverill Osborne?
Sofia nahm die Bürste zur Hand und strich sich eine Locke aus dem Gesicht. Es spielte keine Rolle, wer er wirklich war. Ihr konnte es schließlich gleichgültig sein, ob der Erzengel Gabriel in ihm steckte oder Luzifer höchstpersönlich. Denn seine Rolle in ihrer Mission hatte sich erschöpft - eine Tatsache, für die sie überaus dankbar war. Es gab genügend Geheimnisse zu lüften, ohne sich weiter den Kopf über diesen Mann zu zerbrechen.
Die Borsten verfingen sich im Haar. »Verdammt!«, murmelte sie. Sie ärgerte sich darüber, dass sie Osborne so nahe an sich herangelassen hatte. Heiß und kalt ... Sie fröstelte, was sie in ihrem Beschluss bestärkte, ihm in Zukunft keinerlei Beachtung mehr zu schenken. Ihre Reaktion auf ihn entbehrte jeder Vernunft.
Sofia erhob sich abrupt, schnappte sich ihr Notizbuch und verschloss es in dem Geheimfach, das unter dem Parkettfußboden im Ankleidezimmer verborgen war. Das Klicken des Verschlusses erinnerte sie daran, dass sie niemals in ihrer Wachsamkeit nachlassen durfte. Der kleinste Fehltritt konnte ihr die Maske vom Gesicht reißen ...
»Sie sollten jetzt lieber anfangen, sich für den Ball bei Lord und Lady Gervin anzukleiden, Mylady!« Rose hatte leise geklopft und das Schlafzimmer betreten. »Soll es das apricotfarbene Samtkleid mit dem golddurchwirkten Überkleid sein?«
»Nein. Lassen Sie uns etwas ... etwas Gewagteres heraussuchen.« Sofia kehrte an ihren Stuhl zurück und warf noch einen letzten eindringlichen Blick auf ihr Spiegelbild. Die Kunst der Tarnung und Täuschung gehört zu den Grundlagen des Unterrichts an der Akademie. Beides muss uns so vertraut sein wie eine zweite Haut, wenn wir unserem Zweck dienen wollen. Sofia strich sich mit der Hand über den Busen und sagte: »Das neue Kleid von Madame Fournier ist doch heute Nachmittag eingetroffen, nicht wahr?«
Sie hatte ein Kleid bei der beliebtesten Schneiderin der Stadt bestellt. Der Kragen war so geschnitten, dass er einen provozierenden Blick auf ihr Dekollete freigab, aber nicht nur das; auch die Farbe war in einem tiefen, lüsternen Scharlachrot gehalten.
»Ja, Ma'am.«
»Ausgezeichnet.« Sofia drehte sich vom Spiegel weg. »Ich glaube, es wird Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen. Heute Abend werden wir vor Lord Adam De Winton die rote Fahne schwenken.«
Rose nickte. »Wollen Sie auch die Rubine anlegen?«
Sofia zuckte die Schultern. »Wenn ich schon als Scharlach-Lady auftrete, kann ich auch jede Hemmung fallen lassen.« Die Ohrringe waren lang, die tränenförmigen Juwelen schienen von der Kette zu tropfen und in zarte Perlen zu gerinnen. Der passende Halsschmuck betonte den schweren Anhänger, der genau über den Rundungen ihres Ausschnitts baumelte.
»Aye. Und mit dem perlenbesetzten Reif im Haar, der Ihr dichtes, ebenholzfarbenes Haar betont ...« Die Zofe fing an, die Strähnen zu einem modischen Knoten oben auf dem Kopf zu richten. »Der Mann wird in Windeseile zu Ihnen rennen.«
Sofia beobachtete die flinken Finger der Zofe. Auch sie selbst würde ihre ausgezeichneten Fähigkeiten im Umgang mit De Winton beweisen müssen. Ein einziger Fehltritt konnte ihre Chancen zerstören, das Geheimnis des goldenen Schlüssels und seiner mysteriösen Krone zu lüften ...
Abrupt schaute sie auf. »Haben wir vielleicht Mohnblüten, die wir als Haarschmuck nutzen könnten?«
»Nein, Mylady.«
»Dann schicken Sie einen Lakaien los, um welche zu besorgen. Es kümmert mich nicht, wenn er deshalb bis Kew Gardens laufen muss.« Ein Lächeln spielte über ihre Lippen. »Warum nicht ein wenig zu dick auftragen ...«
Es würde nicht mehr lange dauern, bis Rot zu der Farbe geworden war, die er am meisten verabscheute. Osborne ging am Bordeaux-Punsch vorbei und griff sich zwei Gläser Champagner. Lady Sofia hatte offenbar die Absicht, seine Warnungen vor den Scarlet Knights zu ignorieren. Nicht nur, dass sie an diesem Abend schon zwei Tänze mit De Winton getanzt hatte; auch den anderen Mitgliedern der Gruppe hatte sie gestattet, ihr Tanzpartner zu sein.
Er warf einen Seitenblick auf ihr Gesicht, unterdrückte seinen Grimm. Es sah tatsächlich so aus, als hätte diese teuflische Farbe sie in den Bann geschlagen. Nicht dass das tiefrote Ballkleid an ihr nicht himmlisch aussah.
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