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Die scharlachrote Spionin

Die scharlachrote Spionin

Titel: Die scharlachrote Spionin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Pickens
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ließ den Blick seitlich schweifen, während sie versuchte, den Gesichtern nicht nur Namen, sondern auch die entsprechende Beschreibung in ihren Akten zuzuordnen. Der fette und schwülstige Lord Rockham schrieb Sonette in klassischem Latein, der dürre Mr. Jervis war der Verfasser mehrerer gelehrter Abhandlungen über das antike Aquädukt und die kupferfarbene Miss Pennington-Pryce eine Autorität auf dem Gebiet der römischen Bildhauerei ...
    Beinahe wäre ihr Blick über den Duke of Sterling hinweggegangen, der in der entfernten Ecke saß, tief verborgen in den langen Schatten einer großen Jupiter-Statue. Selbst im Halbdunkel strahlten seine strengen, wie gemeißelten Gesichtszüge noch eine Aura der Autorität aus, die einer hoheitsvollen römischen Statue gleichkam. Die regelmäßigen Konturen und feinen Linien hatten sich mit den Jahren zu einem harten und kantigen Gesicht verfestigt. Aber auch mit seinen fünfundsechzig Jahren war der Duke immer noch ein attraktiver Mann, dessen weißes Haar wie eine Löwenmähne seine hohe Stirn krönte.
    Streng, unnahbar und aristokratisch sah er aus, wie es seiner illustren Abstammung geziemte. Und traurig.
    Der Tod seines Großsohnes muss ihn immer noch unendlich schmerzen, grübelte Sofia. Außerdem erinnerte sie sich daran, dass man eine weitere Familientragödie erwähnt hatte ... Irgendetwas über die Entfremdung von seiner einzigen Tochter - dem Menschen, der ihm am liebsten gewesen war. Sie war seinem Wunsch entgegen mit jemandem durchgebrannt. Soweit Sofia es gehört hatte, war die junge Frau verstorben, bevor es zu einer Versöhnung hatte kommen können.
    Sofia seufzte lautlos. Familie. Das Leben war so zerbrechlich, so flüchtig. Wie war es nur möglich, dass solcher Streit die Bande der Liebe zerstörte?
    Eine Weile schaute sie noch zu ihm hinüber, bevor sie den Blick abwandte. In der Akademie hatte man sie über die Welt der Schönen und Reichen gelehrt, dass das, was sich in den betitelten Familien abspielte, nur wenig mit Liebe zu tun hatte. Eheschließungen beruhten auf pragmatischen Überlegungen wie auf der Vermehrung von Land, Macht und Geld statt auf einem wild pochenden Herzen. Pflicht rangierte vor Vergnügen.
    Ein wehmütiges Lächeln spielte über ihre Lippen. In vieler Hinsicht unterschied es sich nicht besonders von den Gesetzen, die ihre eigene Welt regierten.
    »Und damit wäre die Bildhauerei der flavianischen Epoche abgedeckt. In den nächsten Wochen werde ich über die späten Jahre des Empires sprechen. Aber für heute würde ich mich glücklich schätzen, Ihre Fragen beantworten zu dürfen.«
    Mehrere Leute erkundigten sich nach stilistischen Einzelheiten, bevor die Versammlung zu den Erfrischungen gebeten wurde. Sofia erlaubte dem Baron, sie dem Kreis seiner Freunde vorzustellen; aber nachdem sie ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten, gelang es ihr, sich zu entschuldigen. Dem Blickkontakt zu den zwei anderen Ladys wich sie aus und bahnte sich den Weg zu den gläsernen Ausstellungskabinetten im Alkoven.
    »Es scheint, dass Sie ein reges Interesse für Münzen hegen, Madam.« Eine tiefe, grimmige Stimme erklang dicht hinter ihr, nachdem sie die kleinen Kunstwerke schon eine ganze Weile betrachtete hatte.
    Sofia schaute auf. »Oh, in der Tat! Ich finde diese Gesichter überaus faszinierend.«
    Aus der Nähe sah der Duke of Sterling weit weniger einschüchternd aus, weil in seinen lebhaften graugrünen Augen plötzlich ein amüsiertes Fünkchen glitzerte. »Ja, man kann die gesamte Bandbreite der menschlichen Gefühle entdecken«, erwiderte er, »Gier, Stolz, Geiz und Lüsternheit.«
    »Genau wie Mut, Adel und Leidenschaft«, fügte sie leise hinzu.
    »Das auch.« Er presste die breiten Handflächen auf das Glas. »Aber ich fürchte, ich bin auf meine alten Tage ein wenig zynisch geworden.«
    »Nicht annähernd so zynisch wie Tiberius.« Sofia deutete auf das höhnische Lächeln des alten Kaisers. »Manchmal bereitet es mir Vergnügen, mir Geschichten zu den Gesichtern auszudenken. Wer diese Menschen wirklich waren, welches Leben sie gelebt haben. Nicht besonders gelehrt, fürchte ich, aber das verleiht den vergangenen Zeiten doch erst ein menschliches Antlitz.«
    Sterling lachte. »Ich gestehe, dass ich nicht anders denke, wenn ich meine Sammlung betrachte. Manche der Bildnisse sind unvergesslich.« Einen Moment lang blickte er eindringlich auf die Münzen; dann schüttelte er kaum merklich den Kopf. »Natürlich handelte es sich um

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