Die scharlachrote Spionin
streng geheim war.«
»Hält er sich bevorzugt in dieser Spielhölle in St. James auf?«
»Soweit ich weiß.«
Osborne erhob sich abrupt.
»Du hast deinen Wein noch nicht ausgetrunken.«
»Bitte entschuldige, ich bin heute Abend ein wenig in Eile. Setz die Flasche auf meine Rechnung.« Eilig verließ Osborne den Club, obwohl sein Freund aussah, als würde er es ihm übel nehmen, und hielt eine vorbeifahrende Droschke an.
Der Wagen musste mehrmals anhalten, aber schließlich machte er Captain Joshua Porter in einem Klub in Seven Dials aus, in dem sich gewöhnlich die Dienerschaft amüsierte. Der Offizier war in einem hitzigen Würfelspiel gefangen, aber ein paar gewisperte Worte konnten ihn überzeugen, die Elfenbeinwürfel eine kleine Weile zur Seite zu legen.
»Ich kann nur für Sie hoffen, dass es wirklich dringend ist«, brummte Porter wütend, »denn ich hatte gerade eine Glückssträhne.«
»Es steht auf Leben und Tod«, versicherte Osborne, dachte an die Straßenräuber und deren blitzende Klingen. »Und eine gewisse Lady ...«
Eine Familienähnlichkeit? Sofia starrte in den Spiegel und wünschte sich irgendeinen handfesten Beweis für ihren Verdacht. Die schwarze Tätowierung kennzeichnete sie als Merlin. Wenn es doch nur einen ähnlich unabwaschbaren Beweis für ihr Geburtsrecht gäbe!
Seufzend senkte sie den Blick auf das Medaillon, grübelte über die Launen des Schicksals und die Familie. Vielleicht war es purer Zufall und keinesfalls ein echter Beweis ihrer Abstammung. Es mochte tausend Erklärungen dafür geben, wie die alternde Prostituierte, die Sofia als Kind aufgenommen hatte, auf diesen Unsinn gekommen war. Und was ihre Ähnlichkeit mit dem Porträt betraf ...
Sofia glättete die Falten ihres seidigen Nachthemdes und warf noch einen langen Blick in den Spiegel. Keine Frage: Das rabenschwarze Haar und die grünen Augen glichen sich sehr, aber davon abgesehen konnte man nichts Genaues sagen. Lag vielleicht der Hauch eines Lächelns von Elizabeth Woolsey auf ihren eigenen Lippen? Ähnelten sich die Konturen der Wangenknochen? Schon durch die Interpretation des Künstlers war die Wahrheit verzerrt, durch den Fluss der Zeit, durch die verblassende Erinnerung.
Selbst der Duke mochte nur noch das erkennen, was er erkennen wollte.
Und was die Geschichte betraf, wie Sofia in das heruntergekommene Hurenhaus gelangt war, so konnte sie nicht mit Sicherheit auseinanderhalten, was der Wahrheit entsprach und was erfunden war. Sally Edwards, das fragliche leichte Frauenzimmer, besaß einen Hang zur Romantik, wie die Tatsache bewies, dass sie trotz der Härten ihres Berufs ein Kind zu sich genommen hatte.
Sally hatte immer behauptet, dass ihre Schwester Mary eines Abends zu ihr gekommen sei, ein Baby im Arm und eine Geschichte auf der Zunge, die direkt aus einem Groschenroman hätte stammen können. Ihre Dienstherren - ein hochgeborenes Paar, das von seinen Familien verstoßen worden war, weil sie gegen deren Willen geheiratet hatten - waren an einer plötzlichen Grippe-Epidemie verstorben. Auf dem Sterbebett hatte die Mutter Mary das Medaillon in die Hand gedrückt und ihr einen Namen genannt. Aber wie der Zufall es wollte, war Mary ebenfalls krank geworden, und nachdem sie den Weg durch die engen Gassen von St. Giles hinter sich gebracht hatte, war sie zu krank, zu benommen, um sich noch an ihn erinnern zu können.
Sallys Schwester hatte die Nacht nicht überlebt; aber die Geschichte hatte eine eigene Dynamik entfaltet. Sofia spürte, wie ihre Mundwinkel zuckten. Die anderen leichten Frauen hatten sie »Prinzessin« gerufen, hatten es geliebt, sich darüber auszulassen, wie eines Tages ein hübscher Prinz auftauchen und sie aus den schmutzigen Straßen erretten würde.
Sofia seufzte. Ja, vielleicht war sie tatsächlich eine hochgeborene Lady. Aber vielleicht hatte die Prostituierte auch nur ein fantastisches Märchen um das Medaillon herumgesponnen, das sie im Matsch gefunden hatte.
Vielleicht würde die Wahrheit nie ans Licht kommen. Nicht zuletzt sie selbst wusste, wie schwer die Wahrheit manchmal zu fassen war. Ihre Ausbildung hatte sie gelehrt, dass man oft pragmatisch handeln musste. Man musste es hinnehmen, dass das Leben nicht immer in geraden Bahnen verlief.
Ihre beiden Zimmergenossinnen waren entschlossen gewesen, sich niemals über ihren unbekannten Stammbaum den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht weil sie niemals eine verlockende Verbindung in ihre Vergangenheit besessen hatten. Sofia war
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