Die Schatten der Vergangenheit
lehnten, wo es denn ging, an der Wand. Bei meinem Erscheinen verstummten sie jäh. Mindestens fünfzig Personen drehten sich zu mir um.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht, den Rat meiner Mutter zu befolgen und hierherzukommen? Ich hatte nicht die geringste Chance, gegen so viele anzukämpfen, wenn sie mir etwas antun wollten.
Mir war gar nicht bewusst, dass ich wie angewurzelt stehen geblieben war, bis mir mein Großvater eine Hand auf die Schulter legte. Er ging in die Knie, damit unsere Augen auf gleicher Höhe waren, meine garantiert vor Schreck weit aufgerissen.
»He, Schätzchen. Du brauchst dich hier vor nichts zu fürchten. Das sind alles Freunde!«
Jetzt chill mal, Remy, und tu so, als hättest du nicht gerade ein Date mit deinen Feinden. Ich holte tief Luft und nickte.
»Franc, ich glaube, das ist vielleicht alles ein bisschen viel für sie.« Eine schlanke blonde Frau trat vor und streckte mir die Hand entgegen. »Hi, Remy. Ich bin Dorthea Angelini. Erin, die euch die Tür aufgemacht hat, ist meine Tochter.«
Ich schüttelte ihr die Hand, und sie stellte mir die anderen im Raum vor. Die Namen merkte ich mir erst gar nicht – dafür waren es einfach zu viele. Die Teens im Raum fielen mir allerdings schon auf, mindestens fünf davon waren in meinem Alter. Nur zwei Mädchen darunter, eine davon Erin. Und insgesamt gab es wesentlich mehr Männer als Frauen.
Ich ging ganz nahe an meinen Großvater heran und flüsterte: »Ich dachte, nur Frauen könnten heilen?«
Er runzelte die Stirn. »Also, deine Mutter hat dich ja wirklich nur lückenhaft aufgeklärt. Die Männer hier sind auch keine Heiler. Wie ich, sind sie die Männer, Brüder und Söhne der Heilerinnen. Es gibt nur acht Heilerinnen. Und dich.«
Acht? Nach jahrelanger Suche hatte er gerade mal acht Heilerinnen ausfindig gemacht? Was hatte ich denn dann bitte für eine Chance zu überleben?
Er deutete auf Erin und das andere Mädchen in unserem Alter, Delia, und auf ein kleines Mädchen, das um die sieben Jahre alt sein musste. Als ich zu ihm hinguckte, versteckte sich Chrissy, so hieß es, hinter Delia. Die funkelte mich an, undihre vogelartigen Gesichtszüge verzogen sich vor Abscheu, als wäre ich in ihr Nest eingedrungen. Dann deutete mein Großvater auf fünf andere Frauen, die zwischen Anfang zwanzig bis um die fünfunddreißig sein mussten. Ging man nach der Statistik im Raum, so wurden Heilerinnen nicht alt.
Deprimiert und ziemlich erschüttert, nickte ich allen einen Gruß zu, und Dorthea führte mich zu einer Couch, von der sie einen Jungen, ungefähr in meinem Alter, aufscheuchte. Der blonde Surfboy-Schönling grinste mich dreist an, bevor er sich erhob. Das musste Dortheas Sohn Alcais sein, vermutete ich. Die Leute hier hatten ein Faible für französische Namen, die ich einfach nicht behalten konnte.
Ich setzte mich, und mehr schien auch nicht nötig zu sein, denn schon bestürmte mich einer nach dem anderen mit Fragen. Die meisten drehten sich um die Beschützer, vor allem, ob mir etwas über ihre Aufenthaltsorte bekannt war. Sie schienen davon auszugehen, dass meine Fähigkeiten genau wie ihre funktionierten, weshalb sie sich damit nicht weiter befassten. Nein, sie wollten wissen, ob ich je entdeckt oder angegriffen worden sei.
Das konnte ich nicht bejahen, ohne Asher und die Blackwells ins Spiel zu bringen, folglich schwindelte ich. Verschiedene Grade von Enttäuschung und Erleichterung spiegelten sich auf den Gesichtern um mich herum wider. Ich kam mir wie ein Spion vor, der vom Geheimdienst verhört wurde, und so weit hergeholt war der Gedanke vermutlich auch gar nicht. Diese Leute überlebten nur, weil sie den Beschützern ihre Existenz verheimlichten.
»Woher wisst ihr, dass man mich nicht verfolgt hat?« Plötzlich fragte ich mich, ob sie sich darüber mehr Sorgen hätten machen sollen? »Was, wenn es ein Trick war, dass ich hergekommen bin?«
Aus einem riesigen Sessel sprach mein Großvater in ernstem Ton. »Ich bin doch nicht allein zum Flughafen gefahren, Remy.«
Mein Herz setzte aus. Er deutete auf Alcais und ein paar der größeren Männer. »Sie sind uns gefolgt, um sich zu vergewissern, dass du allein kommst. Tut mir leid, aber da konnten wir kein Risiko eingehen.«
Was, wenn Asher und ich uns nicht am Gate getrennt hätten? Was, wenn er nicht zurückgeblieben wäre? Wir waren knapper dran gewesen, entdeckt zu werden, als gedacht.
»Was hättet ihr getan, wenn ich verfolgt worden wäre?« Ich bemühte mich,
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