Die Schatten der Vergangenheit
Strandes angekommen.
Wir folgten ihnen. »Sollten wir denn nicht bleiben?«, fragte ich Erin verwirrt. »Wirkt es denn nicht verdächtig, wenn Delia dem Jungen das Leben rettet und sich dann aus dem Staub macht?«
»Noch verdächtiger wirkt es, wenn sich herausstellt, dass Delia gar keine Rettungsschwimmerin ist«, murmelte Erin.
Ich zwinkerte. »Oh!«
Kein Mensch achtete darauf, dass wir gingen. Inzwischen hatten sich ein paar Schaulustige eingestellt. Als sie sich fragten, wer den Jungen gerettet hatte, waren wir schon verschwunden.
Auf dem Rückweg zu Erins Haus spiegelten sich auf den Gesichtern der anderen die verschiedensten Gefühle wider. Delia ergriff Alcais’ Hand, und er umklammerte sie fest. Erinhatte die Mundwinkel grimassenhaft nach unten gezogen. Angst, begriff ich – sie fürchteten sich vor einer Entdeckung. So sehr unterschieden sich diese Heilerinnen gar nicht von mir. Sie mochten sich zwar zusammengerottet haben, aber sie verbargen ihre Heilkünste noch immer vor der Öffentlichkeit.
Wie sähe die Welt aus, wenn wir unsere Fähigkeiten offen ausüben könnten? Wenn Verletzungen oder Krankheiten diese Heilerinnen nicht entkräfteten wie mich, dann könnten wir so vielen helfen. So viele retten.
Aber dazu würde es nie kommen. Irgendwer würde uns immer zu beherrschen versuchen.
»Alles okay mit dir?«, fragte Erin. Und sie berührte meinen Arm.
Eine Woge der Gier erhob sich in mir, und ein dunkles, ausgehungertes Etwas in mir sehnte sich danach, über sie herzufallen, als wäre sie das Letzte, was man hier auf Erden zwischen die Zähne bekommen könnte. Erins Lippen bewegten sich, aber ich konnte sie nicht hören. Ich war völlig von der Energie, die dort unter ihrer Haut strömte, wo ihre Finger auf meinem Unterarm lagen, in Anspruch genommen, und ein surrendes Geräusch übertönte alle anderen Geräusche. Mein Summen, nahm ich an. Es war intensiver geworden. Ich stand unter Hochspannung, vibrierte vor Verlangen, mir Erins Energie einzuverleiben. Und ich bezweifelte, dass Erin imstande wäre, mich davon abzuhalten. Meins, meins, meins, flüsterte es. Das dunkle Ding in mir entrollte sich und wollte nach ihr greifen. Erin wandte sich ab, um mit den anderen beiden zu reden.
Sie nahm ihre Hand weg, und ich taumelte. Ich musste meine Knie fest durchdrücken, damit ich nicht stürzte. Das Summen blieb, obwohl sie mich nicht mehr berührte. Die Haare auf meinen Armen stellten sich auf. Hin und her gerissen,ob ich Energie aussenden oder absorbieren sollte, fühlte ich mich wie ein Draht, der Strom führte und nicht geerdet werden konnte. Schweiß trat mir auf die Stirn.
»Remy?« Ich drehte mich um. Erin war zu Alcais und Delia vorgegangen. Sie machte ein besorgtes Gesicht. Ich musste schrecklich ausgesehen haben, denn sie fragte: »Alles okay mit dir?«
»Ja«, meinte ich mit zitternder Stimme. »Alles okay«, sagte ich dann entschlossener. »Bin in einer Minute wieder bei euch.«
Sie zögerte einen Augenblick und marschierte dann los, zuckte die Achseln, als Delia sie irgendetwas fragte. Sie verschwanden in der Einfahrt. Als ich allein war, beugte ich mich vor und stützte mich auf meine Oberschenkel. Atmete ein paarmal tief durch. Ich klang wie eine Frau, die in den Wehen lag.
Als ich so dastand und mich bemühte, nicht auszuticken, gingen mir zwei Fragen durch den Kopf. Was, zum Teufel, war da eben in mich gefahren? Und was konnte ich machen, damit so etwas nicht noch einmal passierte?
Irgendein Instinkt sagte mir nämlich, dass ich Erin hätte töten können, hätte sie mich noch länger berührt.
Auf der Rückfahrt in die Stadt zogen mein Großvater und ich es vor, zu schweigen.
Ich war ins Haus zurückgekommen, als Delia und die anderen gerade vom Vorfall am Strand erzählten. Mein Großvater hatte mich dabei nicht aus den Augen gelassen, und ich vermutete, er wollte sehen, wie ich darauf reagierte, eine andere Heilerin in Aktion erlebt zu haben. Ich hatte meine Gedanken für mich behalten, während Delias Mutter sie dafür schalt, den Jungen in der Öffentlichkeit geheilt zu haben.
Wäre ich durch die Sache mit Erin nicht derart traumatisiert gewesen, hätte ich es lustig gefunden, mitzukriegen, wie jemand anderem die gleiche Standpauke gehalten wurde wie mir regelmäßig von Asher und seiner Schwester Lucy. Anscheinend schlugen sich die Heilerinnen hier mit ähnlichen Problemen herum wie ich. So aber hielt ich lieber den Mund und hoffte, niemand würde merken, dass ich
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