Die Schatten der Vergangenheit
mich zu haben. Wir hatten ausgemacht, dass ich mich am Abend aus dem Haus schleichen und ihn treffen würde, und ich zählte die Stunden bis dahin. Ich musste ihm so viel erzählen, das hätte definitiv nicht in eine SMS gepasst.
Kurze Zeit darauf ließen wir die hügelige Stadt hinter uns und fuhren auf dem Highway 1 in Richtung Süden. Diesmal fragte ich meinem Großvater Löcher in den Bauch, logischerweise hauptsächlich über die Heilerinnen.
»Du hast gesagt, sie hätten sich zusammengetan. Was heißt das genau?«
»Nun, bislang waren die Heilerinnen davon überzeugt, dass es besser wäre, allein zu reisen und öfter den Namen zu wechseln. Dadurch konnten sie schwerer ausfindig gemacht werden. Nach dem, was mit deiner Großmutter geschehen ist, wurde mir allerdings klar, dass das nicht funktionierte. Getrennt voneinander zu leben, machte uns zu einer leichteren Beute. Ich fand, es war an der Zeit, sich eine bessere Strategie einfallen zu lassen.«
Mir fiel auf, dass mein Großvater im Plural sprach. Wenn er sich also als einer von ihnen betrachtete, dann hatte ihm die Heirat mit meiner Großmutter offensichtlich den Eintritt in ihre Ränge beschert.
»Aber wie habt ihr einander überhaupt gefunden? Wenn alle untergetaucht waren, wo habt ihr dann angefangen?«
»Ganz einfach. Man ist ja eine Familie, da alle von den gleichen Blutlinien abstammen. Hast du das vergessen? Genau wie deine Mutter wusste, wie man mich finden würde,haben Heilerfamilien vor langer Zeit Wege ersonnen, einander zu finden. Wege, um Neuigkeiten auszutauschen oder einander Informationen zukommen zu lassen, wenn Beschützer in ihr Gebiet eindrangen. Das habe ich mir zunutze gemacht, um Heilerinnen zu finden, die es leid waren, ständig um ihr Leben zu fürchten.«
»Und sie machen … was? Wohnen auf einem Gelände mit einem elektrischen Zaun drumherum und einem Schild am Eingang auf dem steht: ZUTRITT FÜR BESCHÜTZER VERBOTEN?«
Lachend schüttelte mein Großvater den Kopf. »Herrje, wie bist du doch deiner Mutter ähnlich!« Wieder lachte er und warf mir einen Seitenblick zu. »Nein, wir wohnen auf keinem Campus. Die meisten Heilerfamilien haben sich hier in Pacifica niedergelassen.«
Bei einem Städtchen, dessen Häuser teilweise schon bessere Tage gesehen hatten, fuhren wir vom Highway herunter. Eingeklemmt zwischen Strand und Hügeln, erinnerte mich etwas an der Gegend an Kinofilme aus den Sechzigern. Die Häuser waren eine eklektische Mischung aus kleineren Bungalows und Häusern im Ranchstil. Anders als San Francisco mit seinen hohen Gebäuden, duckten sich diese Bauten nach unten. Zwar machte das Ganze einen müden Eindruck, doch die atemberaubende Küste entschädigte für alles.
In Blackwell Falls kamen Wellen höchstens mal bei einem regelrechten Sturm zustande. Hier dagegen schäumte und schlug der tiefblaue Ozean unerbittlich an den Strand. Ein lebendiges, wildes Ding, das sich zu zweieinhalb Meter hohen Wellen erhob, und die Menschen herausforderte, sich auf ein Spiel mit ihm einzulassen. Ich rutschte auf meinem Sitz nach vorn, soweit es der Gurt zuließ, damit ich einen besseren Blick vom Horizont erhaschen konnte.
»Das ist der Rockaway Beach«, erklärte mein Großvater. »Wenn du magst, bitte ich Erin, dass sie mit dir runtergeht.«
»Erin?«
»Eine der jüngeren Heilerinnen. Sie ist ungefähr in deinem Alter. Du wirst sie mögen. Hab mir gedacht, du wirst ja deine Zeit nicht nur mit einem alten Mann verbringen wollen.«
Wir kamen an einem der Bungalows an, die das Ufer säumten. Dieser hier hatte eine weiße Holzverschalung, die dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätte. Ich sprang aus dem Truck und folgte meinem Großvater zur Haustür. Auf sein Klopfen hin machte ein Mädchen auf und umarmte ihn. Als es mich bemerkte, errötete es leicht und senkte den Blick. Blond, mit braunen Augen, sah sie meiner Mutter ähnlicher als ich selbst. Ich dachte, sie könnte eine entfernte Verwandte sein.
»Erin, das ist meine Enkeltochter Remy.«
Ich winkte dem schüchternen Mädchen zu. »Hi!«
Sie schenkte mir ein kurzes Lächeln und bedeutete uns hereinzukommen. »Sie sind alle da, Franc. Mom hat sie nicht abwimmeln können.«
Sie? Wer sie?
Viel Zeit darüber nachzudenken, hatte ich nicht, denn mir schlug lautes Stimmengewirr entgegen. Im Wohnzimmer und im angrenzenden Esszimmer waren Leute allen Alters versammelt. Sie saßen auf jeder Oberfläche, einschließlich Sessellehnen, Sofas und dem Boden, oder sie
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