Die Schatten der Vergangenheit
auf der Mauer sitzenkonnte, und drehte mich so, dass ich die Beine zum Ozean hin baumeln lassen konnte. Die schaumgekrönten Wellen brandeten in kurzen Abständen ans Ufer. Eine Mutter jagte ihrem Sohn am Wasserrand hinterher, und sein Kichern wehte zu uns herüber. Ein kühler Windstoß peitschte mein Haar zurück, und ich schloss die Augen. Ich hörte, wie Erin sich neben mich setzte, und ich versuchte, Alcais und Delia auszublenden, die wieder angefangen hatten, sich anzugiften.
»Hören die eigentlich nie auf?«, fragte ich schließlich Erin.
Sie grinste. »Nur, wenn sie schlafen.«
»Hast du zufällig ein Schlafmittel dabei?«
»Ich hab’s gehört!«, rief Alcais fröhlich.
Ich beachtete ihn nicht und versuchte, Erin aus der Reserve zu locken. Sie erzählte mir von den Anfängen der Heilergruppe hier in der Gegend. Mein Großvater hatte den ersten Heilerinnen bei der Haussuche geholfen und dann zum Schutz gegen die Beschützer Regeln aufgestellt. Dabei waren sie in die Offensive gegangen, indem sie die Aufenthaltsorte der Beschützer auskundschafteten und sicherstellten, dass sie zu allen Zeiten darüber Bescheid wussten.
»Eigentlich verstecken sie sich ja auch nicht«, mischte sich Delia ein, als ich fragte, wie so etwas möglich sei. »Warum auch?«
»Der Jäger muss sich vor seiner Beute ja auch nicht verstecken, oder? Er hat schließlich nichts zu verlieren«, setzte Alcais hinzu. Sein Gesicht nahm einen harten Zug an, als er sich auf meine andere Seite plumpsen ließ. »Wann immer sie Hunger haben, nehmen sich Beschützer, was sie wollen.«
Plötzlich zerriss ein Schrei die Luft.
Wir schauten in die Richtung, aus der er gekommen war. Eine besonders hohe Welle hatte den Jungen, der vorher mit seiner Mutter am Strand gespielt hatte, mitgerissen. Ohnenachzudenken, sprang ich von der Mauer und rannte los. Alcais, Delia und Erin rannten hinter mir her, wobei ich mich zusammenriss, nicht in das Tempo der Beschützer zu verfallen. Andere Heilerinnen konnten sich ja nicht so schnell bewegen wie ich.
Als wir ankamen, hatte die Mutter den Jungen schon aus dem Wasser gezogen. Er atmete nicht mehr.
Ich wollte seine Hand berühren, aber etwas hielt mich davon ab. Was, wenn herauskam, wie sich meine Fähigkeiten von denen der anderen unterschieden, und die anderen mitkriegten, wie ich dann keine Luft mehr bekam? Der Gedanke wurde bedeutungslos, als ich dem Jungen ins Gesicht sah. Er war vier oder fünf, und seine Lippen hatten sich bereits blau verfärbt. Die Mutter hatte schon mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen, aber sie machte alles falsch. Wenn sie so weitermachte, würde sie ihm die Rippen brechen. Ich wollte einschreiten, aber Delia war schneller. Sie kniete sich neben ihn und hielt die Hand über ihn.
Sie warf Alcais und Erin einen vielsagenden Blick zu, woraufhin die beiden es unter Hinweis darauf, dass Delia eine ausgebildete Rettungsschwimmerin sei, schafften, die weinende Mutter von ihrem Kind loszueisen. Dann stellten sie sich so hin, dass ihr der Blick auf Delia verstellt war.
Delia legte beide Hände auf die Brust des Jungen und schloss die Augen. Als würde sie den Jungen wirklich reanimieren wollen, begann sie mit einer Art Herzmassage. Aus größerer Entfernung konnte man darauf hereinfallen, aber von meinem Platz aus sah ich, dass es reine Show war.
Noch nie hatte ich eine andere Heilerin in Aktion erlebt. Ich hatte mir wer weiß was darunter vorgestellt, aber eigentlich geschah gar nicht viel. Kein Summen wie bei meinen Heilungen. Zumindest bekam ich nichts dergleichen mit.
Es waren allerdings nicht mehr als zehn Sekunden vergangen, und nun wurde mir klar, wieso Alcais und Erin die Mutter aus dem Blickfeld gebracht hatten. Pinkfarbene Funken leuchteten auf, wo Delias Hände auf der Brust des Jungen ruhten. Einen Augenblick später schnappte er nach Luft und fing an, das Wasser herauszuwürgen, das er im Meer geschluckt hatte.
Delia hatte ihn geheilt, aber nichts wies darauf hin, dass sie seine Verletzungen übernommen hatte. Mich packte der Neid. Wie es wohl wäre, jemanden zu heilen, ohne seine Verletzung oder Krankheit zu übernehmen? Diese Leute wussten ja gar nicht, was für ein Glück sie hatten!
Delia erhob sich, und Alcais und Erin machten den Weg frei. Als der Junge hustete, drehte ihn die weinende Mutter auf die Seite. Als ich zu Erin sah, weiteten sich ihre Augen, und sie bedeutete mir zu gehen.
Alcais und Delia waren fast schon wieder auf dem Fußweg oberhalb des
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