Die Schatten der Vergangenheit
fragte, ob sie wirklich auf ihn angespielt hatte. Frustriert wünschte ich, ich könnte nachfragen, aber ihre verschlossene Miene ließ das nicht zu.
Außerdem hatten wir die Einfahrt erreicht, und mein Großvater rief von der Treppe aus nach mir.
»Remy, wärst du dann so weit, dass wir zurückfahren können?«
Erin eilte an mir vorbei ins Haus. Ich schaute ihr einen Augenblick nach, bevor ich meinem Großvater antwortete.
»Klar, wann immer du …«
Quietschende Bremsen zerrissen plötzlich die spätnachmittäglicheStille. Ich wirbelte herum und beobachtete entsetzt, wie ein Mädchen auf ihrem Fahrrad einem weißen Pick-up direkt vor die Räder fuhr. Der Fahrer des Trucks versuchte noch auszuweichen, doch zu spät. Er erfasste das Kind mit der Stoßstange, und das mit solcher Wucht, dass es sich mehrmals in der Luft überschlug und die Räder des Trucks das Fahrrad regelrecht zermalmten. Das Mädchen schlug auf dem Bürgersteig auf. Es regte sich nicht mehr.
Ich rannte zu ihm, und mein Großvater folgte mir. Der Fahrer war bereits ausgestiegen, als ich neben dem Mädchen auf die Knie fiel. Als ich es erkannte, stockte mir der Atem. Es war Chrissy, die Jüngste der Heilerinnen. Aus einer Stirnwunde sickerte Blut auf ihre bleiche Wange.
»Es tut mir so schrecklich leid, Franc. Ich hatte sie im toten Winkel«, wandte sich der Fahrer verzweifelt an meinen Großvater. Ich erinnerte mich vage an ihn. Ich hatte ihn an meinem ersten Tag hier in Pacifica schon mal gesehen.
Chrissys Augen waren geschlossen, aber als ich eine Hand an ihre Wange legte, merkte ich, dass sie noch lebte. Diese unersättliche Gier, die ich schon bei Erin verspürt hatte, packte mich, doch ich bezwang sie. Ich bündelte meine Energie und scannte das kleine Mädchen. Zwei Knochenbrüche – der rechte Oberschenkel und der linke Ellbogen. Die Schnittwunde an der Stirn sah schlimmer aus, als sie war. Sie würde nicht einmal eine Gehirnerschütterung davontragen. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und atmete den metallischen Geruch ihres Blutes ein. Mit diesen Verletzungen kam ich klar.
Dann durchdrangen Stimmen das Summen meiner Energie. Mein Großvater hielt sich hinter mir auf, ohne mich aber direkt zu berühren. »Alles okay mit ihr. Zwei Knochenbrüche und ein paar Kratzer, aber nichts Lebensbedrohliches.«
»Remy, geh mal zurück. Wir müssen sie woandershin bringen, bevor wir zu viel Aufmerksamkeit erregen.«
Ich blickte mich um und sah eine Nachbarin aus ihrem Haus kommen. Vermutlich war sie durch den Lärm nach draußen gelockt worden. Mein Großvater flüsterte dem Fahrer etwas zu, der dann losmarschierte, um mit der Frau zu sprechen. Ein Notarzt oder ein Krankenhaus standen nicht zur Debatte. Der Wirbel darum hätte jedem in der Gemeinde gefährlich werden können.
Franc hob das schmächtige Kind hoch und trug es in Erins Haus. Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er Chrissy behutsam aufs Sofa legte. Ich kniete mich neben sie. Eindeutig war ich die erfahrenste Heilerin im Raum, und das schien auch den anderen klar zu sein.
Ich begegnete Erins besorgtem Blick und begriff, dass ich besser die Finger davon lassen sollte. Dann sah ich Alcais’ spöttischen Blick und wusste, dass es Probleme geben würde, wenn ich das Mädchen nicht heilte. Man würde sich fragen, wieso ich nichts unternahm.
Unschlüssig zögerte ich.
Chrissy stöhnte vor Schmerzen. Sie war zu Bewusstsein gekommen und fing an zu weinen, Tränenbäche mischten sich mit dem Blut und dem Schmutz auf ihren Wangen.
Ihre Tränen entschieden die Sache, und ich zwang mich zu so etwas wie Ruhe.
Ich heile, wen ich kann, wenn ich kann. Okay, packen wir’s an!
Ich nahm ihre Hand und konzentrierte mich darauf, meine Energie zu ihr auszuschicken, nahm ihre Verletzungen eine nach der anderen unter die Lupe. Wieder erhob das Ungeheuer in mir sein Haupt, wollte Chrissy die Energie rauben, aber auch diesmal hatte ich es im Griff. Ihr Innenleben kam mir anders vor als meines und Ashers, aber darüber nachzudenken,fehlte die Zeit. Und plötzlich stand es glasklar vor meinem geistigen Auge: Zum ersten Mal in meinem Leben heilte ich eine andere Heilerin! Ich begann mit der Kopfwunde und bewegte mich dann zu den Knochenbrüchen weiter, stellte mir vor, wie sie heilten und die Knochen dann so gut wie neu waren. Chrissy wachte unter meinen Händen auf, die Augen groß vor Verwirrung und nicht länger von Schmerzen getrübt.
Zeit, die Suppe auszulöffeln.
Funken stoben
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