Die Schatten der Vergangenheit
und drückte mich an sich.
In meinem Kopf ratterte es. Was sollte ich sagen? Wie konnte ich mich herausreden? Bestimmt nicht damit, dass Beschützerblut in mir floss, das bewirkte, dass ich alles aufnahm, was ich heilte. Meine Gedanken kollabierten zu einer wenig hilfreichen Wiederholung von Verdammt, verdammt, verdammt! Aber ich hatte keine Antworten.
In der Küche drückte mich mein Großvater auf einen Stuhl an einem kleinen, runden Holztisch. Er befeuchtete ein Handtuch und wischte mir damit das geronnene Blut von der Stirn. Er behandelte mich fast wie Luft, was gar nicht so einfach war, da er mich ja gleichzeitig berühren musste. Mehrere Leute lungerten in der Tür zum Wohnzimmer herum, bis zum Schluss Chrissys Eltern auftauchten. Ihre Mutter ließ ihren Zorn an dem Pick-up-Fahrer aus, und die Aufmerksamkeit im Raum richtete sich endlich von mir weg auf das Gezeter der beiden. Der Fahrer beharrte darauf, dass ihn keine Schuld traf, und Chrissys Eltern beschlossen schließlich, mit dem Kind nach Hause zu fahren. Mein Großvater hatte bereits ein paar der Männer gebeten, den beschädigten Truck wegzuschaffen, und sie hatten sich eine Geschichte zurechtgelegt, die sie den neugierigen Nachbarn auftischen konnten. Eine kleine Schar harrte jedoch aus.
»Ähm, Franc?«, flüsterte ich.
Er folgte meinem Blick und sagte: »Dorthea, könntest du uns ein paar Minuten Ruhe verschaffen?« Sie nickte und scheuchte die anderen fort. Wie es klang, verzogen sie sich aber gerade mal bis ins Wohnzimmer, sodass wir nur scheinbar unter uns waren. Das Wort »Prophezeiung« drang zu uns herüber, und ich seufzte. Nun fassten sie dieses dumme Gerücht auch noch als bestätigt auf.
Mein Großvater warf das rot gefleckte Handtuch in das Spülbecken. Ich schob mir das nasse Haar aus dem Gesicht und wartete auf seinen Wutausbruch, der kommen musste, das spürte ich. Er lehnte sich mit den Hüften an die Küchentheke, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich misstrauisch an.
»Nun?«, meinte er schließlich. »Kannst du mir bitte erklären, was ich da gerade mit angesehen habe?«
Wieso musste ich mich eigentlich ständig vor allen rechtfertigen? Ich hatte schließlich nicht um diese Fähigkeiten gebeten, verflucht noch mal! Trotzig hob ich das Kinn, sah aber das ganze Vertrauen, das ich mir bei ihm erarbeitet hatte, in riesigen glutroten Flammen aufgehen.
»Chrissy wurde von einem Auto angefahren. Ich habe sie geheilt.«
Franc spannte den Kiefer an. »Deine verdammten Knochen sind entzweigebrochen. Ich habe gesehen, wie deine Stirn aufplatzte. Bis es so aussah wie davor bei Chrissy!«
Er kam zu mir und legte beide Hände auf den Tisch. Andere Mädchen hätten sich dadurch einschüchtern lassen, aber ich war mit Dean aufgewachsen, dem Lehrmeister in Sachen Angst und Bedrohung. Das Gehabe meines Großvaters machte mich wütend, und ich zwang mich dazu, sitzen zu bleiben. Ich beschloss, mich dumm zu stellen, und zog die Augenbrauen hoch.
»Läuft das bei den anderen Heilerinnen nicht genauso?«, fragte ich mit gespieltem Erstaunen.
Aber er ließ sich nichts vormachen. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, und seine Mundwinkel zogen sich enttäuscht nach unten.
»Du bist genau wie deine Mutter«, warf er mir vor, »und hast Geheimnisse!«
Das saß, doch ich zeigte ihm nicht, wie sehr. Es war ja nicht so, dass er meine Mutter in ihren letzten Jahren gekannt hätte.
»Ich dachte, ihr Problem wäre gewesen, dass sie Geheimnisse ausgeplaudert hat!« Meine Stimme troff vor Sarkasmus.
Er wich vor mir zurück, richtete sich auf und holte tief Luft. In diesem Augenblick dachte ich, er würde mir eine scheuern wollen, und etwas Zerbrochenes in mir wurde ganz ruhig, da mir seine Reaktion nur zu vertraut war und ich damit umzugehen verstand. Er wollte etwas sagen, vielleicht auch einfach losbrüllen. Doch eine Stimme aus dem Wohnzimmer unterbrach ihn.
Dorthea, Erins Mom, umklammerte mit einer Hand ihr Handy. Sie war kreidebleich vor Entsetzen.
»Franc, wir haben ein Problem. Die Beschützer. Sie sind hier!«
Noch nie hatte ich so viele Leute auf einem Haufen gesehen, die gleichzeitig erstarrten.
Binnen zehn Minuten drängten sich im Haus mehr als dreißig Menschen. Ich sah mich immer wieder um, und in meinem Kopf jagte eine Frage die nächste. Wo waren die Beschützer? Redeten sie etwa von Asher? War er mir hierher gefolgt und entdeckt worden?
Ich beobachtete sie alle nur und lauschte ihren leisen Unterhaltungen mehrere
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