Die Schatten der Vergangenheit
umgehend, und er streckte den Kopf vor, um mich auf halber Strecke zu treffen. Der Kuss dauerte nur eine Minute, aber ich spürte, wie all die herumwirbelnden Stücke in mir wieder an ihren Platz fielen. Meine Welt machte wieder Sinn.
Nachdem diese Sorge aus der Welt geschafft war, wurde es Zeit, sich einen Fluchtplan auszudenken.
»Kannst du mir helfen, mich zu heilen? Ich würde hier ja gern herumforschen, aber mein Kopf spielt noch verrückt.«
Wortlos sandte er seine Energie in mich hinein, und ich nahm sie dankbar an, um meine Nackenwunde zu schließen. Es dauerte verdammt lange, bevor ich die Schwellung in den Griff bekam. Als ich mich von Asher löste, verblieb noch ein schwaches Pochen, doch damit ließ es sich leben.
»Danke.« Ich rappelte mich hoch.
Mit einer Hand tastete ich mich an der Wand entlang und streckte die andere nach vorn, um zu vermeiden, dass ich irgendwo anstieß. Ich erinnerte mich, dass ich mein Handy mitgenommen hatte und klopfte auf meine Taschen. Pech. Sie hatten es mir abgenommen.
»Asher, wie haben die uns gefunden?«
»Bin mir nicht sicher. Ich muss mich durch irgendetwas verraten haben.«
Ich hielt inne. »Warte. Das ergibt keinen Sinn. Wenn sie dich als Köder benutzt haben, um an mich heranzukommen, dann muss doch wohl ich es sein, die’s vermasselt hat.« Ich dachte einen Augenblick darüber nach, ehe mir ein Licht aufging. »Yvette! Ich war in Yvettes Haus, nachdem ein Beschützer sie getötet hatte. Und die haben das Haus beobachtet. So muss es sein!«
»Wer ist Yvette?«
Asher hatte kurze Blicke von Yvettes Schicksal in meinen Gedanken erhascht, aber ich hatte ihm diesen Abend nie geschildert. Während ich die vier Ecken des Raumes abging, erzählte ich ihm von den Geschehnissen der letzten Tage, angefangen von dem Autounfall über die Entdeckung Yvettes bis zu der Geschichte mit Alcais.
»Jemand weiß über die Gemeinde deines Großvaters Bescheid«, meinte Asher, als ich fertig war. »Ich wette, sie haben Yvette umgebracht, um besser an euch ranzukommen.«
»Aber wieso haben sie’s auf mich abgesehen? Wieso nicht auf den Rest der Heilerinnen?«
»Ich weiß nicht, Liebste. Vielleicht haben sie herausbekommen, dass du anders bist. Könnte eine der anderen Heilerinnen dich verraten haben?«
Davon wollte ich nichts hören. »Nie und nimmer! Die würden nie mit den Beschützern zusammenarbeiten. Du hast ja keine Ahnung, was für eine Heidenangst die haben. Da würde keiner es wagen, gegen eine der heiligen Regeln meines Großvaters zu verstoßen.«
Asher sagte nichts dazu. »Bist du schon auf irgendetwas gestoßen, das uns helfen könnte?«
Meiner Schätzung nach musste der Raum zwei mal drei Meter groß sein. Ich gelangte zur Tür und drehte am Knauf – nichts bewegte sich, entweder war sie verschlossen oder mit etwas verkeilt.
»Ich sag’s dir nicht gern, aber wir sitzen in der Falle.«
Ich rutschte an der Wand hinunter, bis ich neben ihm auf dem Boden saß, und legte den Kopf auf seine Schulter.
Asher seufzte. »Das habe ich mir schon gedacht.«
Eine Weile schwiegen wir. Was gab es schon zu sagen? Eine Situation wie diese hatten wir x - mal durchgespielt. Ich wussteohnehin, was die Beschützer mit mir machen würden, warum also alles noch mal durchkauen und mir noch mehr Angst einjagen? Ich wäre gern in ein Verleugnungsboot gestiegen und damit den Lass-uns-so-tun-als-sei-alles-okay-Fluss hinuntergefahren. Wenn ich in dieser Nacht sterben sollte, dann wollte ich die letzten Stunden nicht in Gedanken an die bevorstehende Folter verschwenden, sondern die Zeit mit Asher verbringen. Ungebetenerweise geisterten mir doch ein paar Schreckensszenarien im Kopf herum.
»Bitte, Remy!«, sagte Asher mit erstickter Stimme.
Ich begriff, dass ich meine Mauern gesenkt und er meine Bilder mitbekommen hatte.
»Tut mir leid«, flüsterte ich.
»Du kommst da raus. Das schwöre ich.«
Er klang so sicher, doch ich fragte mich, woher er diese Gewissheit nahm. Aber ich wollte nicht streiten. Ich hatte anderes im Sinn. Wenn diese Typen nur hinter mir her waren, dann ließen sie Asher ja wahrscheinlich gehen, wenn sie mit mir fertig waren. Ein tröstlicher Gedanke.
»Asher, kannst du mir einen Gefallen tun? Ich möchte nicht, dass mein Dad erfährt, was mit mir passiert ist. Lucy auch nicht.« Er wollte protestieren, zuckte am ganzen Körper, aber ich wollte, dass es gesagt war: »Erzähl ihnen, ich hätte mich entschlossen, für immer bei meinem Großvater zu
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