Die Schatten der Vergangenheit
Zufallsopfer, die man gegen dich einsetzt.«
Ich ärgerte mich, dass er recht hatte. Was er sagte, war mir schon die ganze Zeit klar. Meine Familie, Asher und seine Geschwister liefen meinetwegen Gefahr, ihr Leben zu lassen. Ich zog heftig an dem Türgriff, drückte die Trucktür auf und sprang hinaus, bevor mich mein Großvater daran hindern konnte.
Seine Stimme folgte mir zum Haus.
»Denk darüber nach, Remy. Du gehörst hierher. Du gehörst zu uns!«
Da war ich mir nicht so sicher. Ich wusste nur, dass dieser Trip mich ganz kirre machte. Ich wusste nicht mehr, wohin ich gehörte.
Meine störrische Ader hatte ich von meinem Großvater geerbt. Das ganze Abendessen über bearbeitete er mich und listete Gründe auf, warum ich in Kalifornien bleiben musste. Es sei hier sicherer für mich. Ich sei unter meinesgleichen. Ich hätte Familie. Andere seien in Sicherheit, weil ich nicht da sei, um die Aufmerksamkeit der Beschützer auf sie zu lenken. Er sprach sogar darüber, wie toll die Schulen in San Francisco seien und dass er mir durch die Collegezeit helfen würde. Aber während er auf mich einredete, fragte ich mich unwillkürlich, ob er mich nicht vielleicht nur deshalb zum Bleiben überreden wollte, weil ihn brennend interessierte, worin ich mich von den anderen Heilerinnen unterschied. Welche Rolle spielte ich bei seinen Plänen für eine neue Heilerrasse?
Wegen der Sache mit Alcais hatte er mir keine zwei Fragen gestellt, wollte aber unbedingt wissen, wie meine Fähigkeit, Verletzungen zu übertragen, denn nun eigentlich funktionierte. Hätte mein Vater mitbekommen, dass ich absichtlich gewalttätig geworden war, hätte ich was zu hören bekommen. Er hätte Besseres von mir erwartet. Wieso hatte mein Großvater nicht geschimpft? Mich nicht einmal ermahnt? Ich redete mir ein, dass er glaubte, Alcais würde es verdienen, aber irgendwie passte das alles nicht zusammen.
Schließlich verzog ich mich in mein Zimmer.
Ich wartete, bis ich hörte, dass er schlafen ging, und dann düste ich auch schon zur Küchentür hinaus Richtung Wald.Ich musste Asher sehen. Ich hatte ihm eine SMS geschickt mit der Bitte, mich am Inspiration Point zu treffen, und ich hoffte inbrünstig, er würde da sein. Zu vieles geschah zu schnell. So vieles veränderte sich, und ich wünschte, alles könnte wieder so sein, wie es einmal gewesen war.
Ich stürmte den Wanderpfad entlang, bewegte mich im Dunkeln viel zu schnell, aber ich konnte nicht anders. Dennoch dauerte der Aufstieg zum Aussichtspunkt eine scheinbare Ewigkeit, und die ganze Zeit über hatte ich Angst, Asher würde da oben gar nicht auf mich warten.
Eines war mir an diesem Tag sonnenklar geworden. Als mich mein Großvater gebeten hatte, für immer herzuziehen, hatte sich alles in mir gegen diesen Gedanken gesträubt. Das lag zum Großteil an meiner Familie, aber meine Spontanreaktion hatte mehr mit Asher zu tun.
Ich liebte ihn und damit basta. Er würde mir nie etwas antun. Trotz all seiner Verbindungen zu meinem Großvater und dieser Gemeinschaft war Alcais dagegen ein Psychopath. Er hatte seine Schwester aus purer Neugierde gequält, und aus meiner Sicht machte ihn das nicht besser als den Beschützer, der Yvette umgebracht hatte. Mein Freund dagegen war einer Kugel, die auf mich abgefeuert worden war, entgegengetreten, um mich abzuschirmen. Er hatte die Hand in ein loderndes Feuer gehalten, um mir zu helfen, als ich kaum mehr als eine Fremde für ihn gewesen war. Wie konnte ich vergessen, wie und wer er war?
Ich musste mich entschuldigen. Mein Verrat beschämte mich zutiefst.
Endlich oben angekommen, hielt ich vor Ehrfurcht den Atem an und stieß dann die ganze Luft auf einmal aus, als ich Asher mit dem Rücken zu mir auf einer Bank sitzen sah. Im Nu hatte ich die Bank umrundet.
Zu spät bemerkte ich, dass er bei meinem Anblick alarmiert die Augen aufriss. Er bewegte sich, kämpfte gegen etwas an, das seine Hände auf dem Rücken zusammenhielt, und das Laternenlicht spiegelte sich in etwas Glänzendem wider, das seinen Mund bedeckte. Klebeband.
Lange begriff ich nicht, was das alles zu bedeuten hatte, blieb aber abrupt stehen. Jemand hatte Asher geknebelt und ihn an die Bank gefesselt. Er versuchte, mir etwas zuzurufen, mich zu warnen. Seine schreckgeweiteten Augen waren das Letzte, was ich sah, ehe mein Kopf zu explodieren schien.
»Remy, bitte wach auf!«
Eine Stimme durchdrang die dichte, schwarze Leere.
»Wach auf!«
Lauter jetzt, fühlte sie sich wie eine
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