Die Schatten der Vergangenheit
einen Stuhl heran und nahm darauf Platz. Unsicher, wie ich das Ganze mit ihm angehen sollte, wartete ich darauf, dass Gabriel mich anwies. Er streckte seine Hand aus, und ich legte meine hinein.
»Bereit?«
»Gabriel, bist du dir denn sicher, dass du das kannst?«, fragte ich zögernd. »Asher meinte, meine Energie sei anders als die anderer Heilerinnen. Wirst du sie mir denn nicht rauben wollen?«
»Damit komme ich schon klar.«
»Aber was, wenn nicht? Manchmal fange ich an, Beschützer zu heilen und kann nicht mehr aufhören! Mit Asher ist mir das auch passiert. Ich könnte dir wehtun.«
»Mach dir um mich mal keine Sorgen, okay? Hör auf, Zeit zu schinden!«
Das tat ich wirklich. Die Intimität, die mit dieser Situation einherging, machte mir Angst. Außerdem fand ich den Gedanken furchtbar, in seiner Gegenwart die Mauern zu senken. Training war eine Sache, aber das hier, das war, als würde ich mich nackt ausziehen. Mein ganzes Vertrauen in ihn setzen. Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit. Aber ein Krankenhaus aufzusuchen, fiel flach. Keine Chance.
»Okay, es kann losgehen.« Ich schloss die Augen.
Gabriel ging auf Nummer sicher, damit ich es mir nicht noch anders überlegte, und ließ sofort seine Energie zu mir strömen. Sie fegte über mich hinweg, dunkel und gefährlich. Alles in mir wehrte sich dagegen.
Gabriel musste meine Angst gespürt haben, denn er sagte: »Entspann dich, Remy, ich tue dir nichts, Ehrenwort. Du kannst deinen Schutzwall herunterlassen.«
Natürlich entspannte ich mich nicht, aber ich senkte meine mentalen Mauern und rechnete trotz seines Ehrenworts jeden Augenblick mit seinem Angriff. Der aber ausblieb. Tatsächlich schien Gabriel seine Fähigkeiten besser im Griff zu haben als Asher. Anders als Asher, dessen Energie in der Luft herumwirbelte, sodass ich sie erst packen musste, richtete Gabriel seine genau dorthin, wo er sie haben wollte – auf meine Verletzungen. Ich versuchte, mir einzureden, es wäre Asher, der mir helfen würde.
Gabriels heißer Energiestrom schien mich innerlich zu versengen, doch ich nutzte ihn, um zunächst die schlimmsten Verletzungen zu heilen. Ich stellte mir vor, wie sich die Bauchwunde schloss, das Blut gerann und Gewebe und Muskeln sich wieder zusammenzogen. Damit fertig, machte ich mich an den gebrochenen Arm und die ausgerenkte Schulter. Danach verließ mich die Kraft. Die Blutergüsse und Schnittwunden an meinem Körper mussten warten.
Seufzend ließ ich Gabriels Hand los und schlug gerade in dem Moment die Augen auf, als grüne Funken von meiner Haut auf seine tänzelten. Gabriel war im Gesicht aschfahl geworden, es glänzte vor Schweiß. Er presste die Lippen aufeinander und zog die Augenbrauen zusammen, als würde er gegen maßlose Schmerzen ankämpfen. Ich erschauderte und bekam Angst, er würde die Kontrolle über sich verlieren.
»Alles okay mit dir?«
»Ja«, antwortete er nach einem langen Augenblick.
Er klang nicht okay. Er klang grimmig.
»Ich hab dir wehgetan, stimmt’s? Es tut mir le…«
»Mir geht’s gut«, fiel er mir scharf ins Wort. Er stand aufund drehte mir den Rücken zu. »Warum versuchst du nicht, ein bisschen zu schlafen, und morgen früh tüfteln wir dann einen Plan aus?«
Da ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, musste ich seine Worte für bare Münze nehmen. Als ich an mir herunterblickte, erinnerte ich mich, dass ich nur meine Unterwäsche trug. Vielleicht hätte mir das peinlich sein müssen. Andererseits, was spielte es schon für eine Rolle? Gabriel hasste mich, und ich konnte ihn nicht leiden. Warum sollte er da Blicke riskieren, während er meine Verletzungen heilte? Außerdem sah ich mit all den Schnitten und Blutergüssen eher wie eine Verkehrstote als ein Pin-up-Girl aus. Als mir Gabriel ein sauberes T - Shirt zuwarf, zog ich es trotzdem gern über den Kopf. Anscheinend hatte er sich nicht nur einen Erste-Hilfe-Kasten auf unser Zimmer liefern lassen. Wieder einmal hatte Geld Wunder bewirkt.
Ich vergrub mich unter der Bettdecke und tat, als würde ich einschlafen. Gabriel knipste das Licht aus, und ich hörte, wie er es sich in dem Sessel am Bett bequem machte. Lange Zeit lauschte ich seinen Atemzügen, ihrem steten Ein und Aus. Wie schon vorher, als ich seine Energie benutzt hatte, kam es mir zu intim vor, mit ihm in so einem kleinen Raum festzusitzen, dieselbe Luft zu teilen. Ich wollte einfach nur allein sein. Ich biss mir auf die Fingerknöchel.
Bald verlangsamten
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