Die Schatten der Vergangenheit
damit klar, doch in diesem Augenblick brachte es mich aus der Fassung. Verlangte ich zu viel, wenn ich mal eine Stunde für mich haben wollte, ohne ständig daran erinnert zu werden, was ich verloren hatte?
»Ich habe nachgedacht«, meinte Gabriel. »Wir sollten wieder trainieren.«
Keine Begrüßung. Bloß weitere Befehle. Ich war zu einer Marionette mutiert, an deren Fäden abwechselnd mal mein Großvater und mal Gabriel zog.
»Heute Abend nicht.«
Gabriel horchte auf. »Stimmt was nicht?«
»Alles okay. Ich brauche nur Abstand. Geht das?«
Als ich wortlos an ihm vorbeiging, blitzten seine Augen auf. Er holte mich spielend ein und packte mich am Arm. Warum ziehst du nicht Leine, Gabriel? Ich will dich hier nicht!
»Abstand? Die Schlinge zieht sich immer enger um unseren Hals, und du willst Abstand?«
»Schlinge? Wovon redest du?« Ich drehte mich einmal um die eigene Achse und deutete dann auf ihn. »Von meiner Warte aus sieht es so aus, als seist du frei, jederzeit zu gehen. Ich bin doch die, die hier eingesperrt ist. Du willst weg? Nichts wie los! Ich hab dich nie gebeten, herzukommen.«
Ich stieß einen Ast aus dem Weg und stapfte davon.
»Verwöhntes Balg!«, rief er mir hinterher.
Ich erstarrte. »Was hast du gesagt?«
»Du hast mich doch gehört. Das Einzige, womit du recht hattest, war, dass du mich nicht gebeten hast, herzukommen. Nein, du hast Asher gebeten, herzukommen. Und weißt du, was? Je besser ich dich kennenlerne, umso mehr frage ich mich, was er je an dir gefunden hat!«
Ohne zu überlegen, schlug ich zu, wollte Gabriel so sehr wehtun, wie es in mir wehtat. Ich stürzte mich auf ihn und hatte ihm schon einen Kinnhaken verpasst, noch bevor er meine Arme zu fassen bekam. Er drückte sie an mich und hob mich in die Höhe. Ich trat wild um mich, und Gabriel hielt inne, als ich ihn am Schienbein erwischte.
»Lass den Quatsch! Ich will dir nicht wehtun!«
Ich hörte auf. Keuchend stellte mich Gabriel ab und ließ mich vorsichtig los. Gerade wollte er zurückzuweichen, da holte ich auch schon aus und versetzte ihm mit voller Wucht einen Magenschwinger. Allerdings stand zu bezweifeln, dassihn das mit seiner blöden Beschützerempfindungsunfähigkeit überhaupt juckte.
»Remy, verdammt! Das hat wehgetan!« Gabriel krümmte sich und stützte die Hände auf die Oberschenkel.
Huch! Da wird in meiner Nähe doch wohl keiner sterblich werden? Zu dumm!
Er funkelte mich so wütend an, dass nun ich den Rückzug antrat.
»Du willst kämpfen? Na bitte. Bringen wir’s hinter uns«, meinte er, ballte die Fäuste und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Schlagartig kehrte mein gesunder Menschenverstand zurück.
»Gabriel …«, meinte ich in stockendem Ton.
Ich verstummte, schließlich war es völlig ausgeschlossen, Gabriel um etwas zu bitten. Also blieb nur noch eines. Ich zog den Schwanz ein und rannte los. Ich war nur ein kurzes Stück gelaufen, da hatte mich Gabriel auch schon von hinten gepackt und zu Boden geworfen. Er rollte sich auf die Füße und sprang in eine Angriffsposition. Ich spuckte den Dreck aus, den ich eingeatmet hatte, und rollte mich in die andere Richtung. Ich sprang auf und drehte mich in Abwehrhaltung zu ihm um.
»Lass mich in Ruhe, Gabriel!«
»Oder was? Wie willst du mich stoppen?«
Ehe ich mich’s versah, stürzte er sich auf mich und packte mich am Armgelenk. Dann traf mich seine Energie mit einer Wucht, die mich in die Knie zwang.
Meine mentalen Mauern, begriff ich. Ich hatte mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr um sie gekümmert, und jetzt bereute ich es. Gabriel setzte seine Energie auf eine Weise gegen mich ein, die mit den Situationen überhaupt nicht zu vergleichen waren, als er oder auch Asher mir geholfen hatten,mich zu heilen. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Mein galoppierendes Herz schlug unvermittelt nur noch träge und dumpf, als mich ein eisiger Wind durchfuhr. Es war, als würden mich von innen heraus kalte Scherben durchbohren, und ich schnappte nach Luft. Gabriel zog mich enger an sich.
Er raubte mir meine Energie. Ich spürte, wie seine Macht sekündlich wuchs.
Dann dröhnte seine Stimme in meinem Ohr. »Genau so werden sie vorgehen. Sie nehmen dir alles. Die Schmerzen werden so groß sein, dass du sie anflehst, deinem Leben ein Ende zu setzen. Das ist kein Spiel. Du bist nicht wie andere Heilerinnen, die sie sich einfach vom Hals schaffen würden. Du kannst sie heilen, und das macht dich sehr wertvoll!«
Plötzlich zog Gabriel
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